Wir erleben eine Zeit, in der Revolutionen, Nahostkonflikte, Terrorismus, Islam-Debatten und Türkei-Politik, die Tagesordnung bestimmen. In diesem Zusammenhang sorgte Innenminister Friedrich wieder für Gesprächsstoff. Medienberichten zufolge gäbe es laut Friedrich 130 sogenannte „Gefährder“, denen jeder Zeit ein Anschlag zuzutrauen wäre. Den Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, Aiman Mazyek, stört es hingegen, dass die Fokussierung hier im Kontext des Islam gesetzt wird. Sein Wortlaut hierzu:

Zurück zum Treffen im November letzten Jahres mit Ihnen, Herr Minister. Die Themen, die dort angesprochen wurden, haben uns  darin bestärkt, dass Extremismusbekämpfung nur in eine Richtung, nämlich der Muslime, nicht der richtige Weg ist. Alle dort anwesenden islamischen Religionsgemeinschaften, allen voran VIKZ; DITIB und ZMD, haben dabei unmissverständlich ihre Absicht bekräftigt die Sicherheitspartnerschaft als eine Plattform zu begreifen, die gegen jegliche Form und Spektren des Extremismus vorgeht. Umso enttäuschter sind wir nun, dass nur einseitig ausschließlich der muslimische Extremismus Gegenstand zumindest der derzeitigen Internetpräsenz ist. Zudem gilt im Vorfeld zu klären: Wie sieht eigentlich die Partnerschaft konkret aus? Welche Strategie wird dabei verfolgt. Fragen die weiterhin noch im Raum stehen.

Wir sehen in dem Entstehungsprozess und in den Inhalten Ihrer Internetpräsenz grundlegende Probleme: Erstens gebührt es einer fairen Partnerschaft, dass die Inhalte im Vorfeld zumindest grob abgestimmt werden. Und zweitens wird (wieder) ein Islamismusbegriff angeführt, der weder mit uns abgestimmt ist, noch auf unsere Zustimmung stößt und nach unserem Dafürhalten keine sachliche und fachliche Definition enthält, um das Phänomen des religiösen Extremismus begreifbar zu machen. Unsere Vorbehalte dürften Ihnen aus diversen Diskussionen in der DIK oder in den Gesprächen mit den Sicherheitsorganen (BKA und BfV) seit langem bekannt sein.

So schaut seit kurzem die aktuelle Debatte aus. Ich frage mich natürlich, ob es denn irgendwelche positiven Entwicklungen in der hiesigen Gesellschaft gibt. Eine mögliche Antwort habe ich am vergangenen Mittwoch in Münster erfahren, als ich an der Buchvorstellung von Prof. Dr. Helen Rose Ebaugh teilnahm. In Ihrem Buch beschreibt Sie eine Studie, an der Sie 5 Jahre lang gearbeitet habe. Die Studie handelt über die Gülen-Bewegung. Jene Bewegung, die vor ca. 50 Jahren aus der Türkei entsprungen ist und heute ihre Aktivitäten auf globaler Ebene transnational weiterführt. Sie ist eine zivile Initiative, die ihr Konzept auf „modernes Wissen“ und „islamische Tugendhaftigkeit“ aufbaut. Der Initiator dieser Bewegung ist der pensionierte Prediger Fethullah Gülen.

Was ist die Gülen-Bewegung? Sie ist eine bürgerliche Initiative, in dem die Anhänger dieser Initiative in sogenannten Wohngemeinschaften sozialisiert werden. Ziel ist es Jugendlichen bei ihrer Identitätsfindung behilflich zu sein. Detailliertere Angaben findet man bei Dr. Bekim Agai (Agai, 2005) Die Grundsätze und Kritiken gegenüber der Bewegung werden weiter unten erläutert.

Ebaugh benennt die Bewegung nach dem Initiator Fethullah Gülen. Sie erzählt, dass man Gülen ihr Buch vorgelegt hat, jedoch hätte ihm der Titel nicht gefallen, mit der Begründung, dass man sämtliches wichtigeEngagement und Impulse anderer Akteure aus der Bewegung ausblendet und nur auf einen Akteur fokussiert. Stattdessen hätte man es Hizmet-Bewegung (Übersetzung: „Dienst am Menschen“) nennen sollen. Mit dem Begriff „Hizmet“ könnten viele Menschen nichts anfangen, aber mit dem Namen Gülen schon, wendet sie ein, daher der Name Gülen-Bewegung.

Sie habe in dieser  Studie Akteure der Gülen-Bewegung aus Amerika und Türkei interviewt. Insgesamt waren es 103 Teilnehmer, die aus den unterschiedlichsten Schichten, wie Akademikern, Geschäftsleuten und Arbeitern zusammengesetzt waren. Dabei habe Sie 25 Kritiker aus der Türkei und 7 aus Amerika interviewt, wobei die meisten Kritiker die Türken selber seien. Viele dieser Kritiken kommen aus dem Kontext der Putschgeschichte. Jedoch konnten diese ihre Kritik-Thesen nicht mit Beispielen aus der sozialen Wirklichkeit der Bewegung belegen, daher habe Sie in Ihrem Buch nur das geschrieben, was sie gesehen hat, so Ebaugh. Folglich wären diese Kritiken überhaupt nicht wissenschaftlich untermauert. Dennoch fasst Sie in ihrem Buch die Kritiken folgendermaßen zusammen:

Yavuz (2003) nennt vier Kritikpunkte, die man Gülen und seiner Bewegung in der Türkei vorhält:

  1. Geschlechterbeziehungen
  2. Schweigen in der Kurdenfrage
  3. Unterstützung des weichen Militärputsches vom 28. Februar 1997
  4. Ein pflichtorientiertes unkritisches Bildungssystem (Ebaugh, 2012)

Ebaugh macht eine interessante Beobachtung in Belgien und Deutschland.  „Gülen-Bewegung muss Rolle der Frau neu definieren“ (DTN). Während Ihrer Reise in Europa für die Buchvorstellung, habe Sie neue Erkenntnisse über die Bewegung gewonnen. Und zwar, dass die Frauen eine immense Arbeit in der Bewegung leisten, zum Teil auch im Vordergrund agieren.

Ein Kommentar auf die Kurdenfrage wird man in der Gülen-Bewegung vergebens suchen, weil sie sich vom politischen Geschehen fernhalten. Eher findet man eine Antwort in den Aktivitäten der Gülen-Bewegung im Osten der Türkei. In der Economist wurde hierüber ein Artikel veröffentlicht. (30. Januar 2008) Dort steht unter anderem, dass die Gülen-Anhänger „während des Opferfests Fleisch an rund 60 000 Familien verteilten und dass Ärzte, die ebenfalls Anhänger Gülens sind, in den kurdischen Regionen kostenlose Vorsorgeuntersuchungen und Behandlung anbieten, womit sie die Botschaft vermitteln, dass Kurden und Türken Geschwister im Islam sind.“ (Ebaugh, 2012)

Bezogen auf Deutschland, werfen Kritiker der Bewegung vor, eine geheime Agenda zu führen. Laut Ebaugh, gibt es hierüber keine Anhaltspunkte, nach Ihren Beobachtungen in Bezug auf Europa. Ganz im Gegenteil, wie oben erwähnt, solle man diese Bewegung immer im Kontext zur historischen Entwicklung der jungen Republik Türkei betrachten. Sonst wäre sie schwer bis unmöglich zu verstehen. Was die Bewegung in Deutschland so einzigartig mache, seien die Gastarbeiter, die nach Deutschland immigriert sind. Dies zeigt uns, dass die Bewegung aus der inneren Dynamik heraus, sich nach den Begebenheiten des befindlichen Landes entwickelt. Ein Beispiel könnte man anbringen in Bezug auf die Deutsch-Türkische Kulturolympiade, bei dem sich auf der Bühne multiple Identitäten (Deutsch-Türkisch) der „Migranten-Kinder“ und die Kultur der einheimischen Kinder widerspiegeln.

In Amerika wird die Bewegung weniger kritisiert. Die Amerikaner legen bei den Gülen inspirierten Einrichtungen eher Wert auf die Bildungsqualität. Auf die Frage Ebaughs an einen amerikanischen Elternteil, ob sie denn wüssten, dass diese Einrichtung Gülen-Schulen zuzuordnen sind, hätten die Eltern gefragt, was denn Gülen ist. Sie würden diese Schulen in der Hinsicht gar nicht hinterfragen. Es interessiere die Amerikaner vordergründig die Qualität der Bildung, die angeboten wird.

Auf theologische Fragen ging Ebaugh nicht ein. Das überlasse sie eher den Theologen. Die Studie von ihr basiert auf zwei Theorien und drei Forschungsfragen, in dem sie die Bewegung in Amerika und Türkei für eine hinreichende Erklärung, wissenschaftlich durchleuchtet hat. Und zwar „Die Theorie der Ressourcenmobilisierung“ und „Die Theorie der Organisationsverbundenheit“. Die drei Forschungsfragen lauten wie folgt:

  1. Aus soziologischer Perspektive: Welche Mechanismen der Organisationsbverbundenheit erklären den Enthusiasmus von Millionen Türken im eigenen Land und in den Ländern, in die sie migriert sind, für die Gülen-Bewegung?
  2. Inwieweit fördern die Finanzierungsmechanismen zur Unterstützung der Dienst-Projekte das Engagement, die Begeisterung und die Verbundenheit der Unterstützer der Bewegung, und wie werden die Unterstützer zu Spenden animiert?
  3. Welche finanziellen Bedingungen gelten für die Einrichtungen, die zur Gülen-Bewegung gehören, und auf welche Weise sind die Unterstützer den von Gülen inspirierten Projekten finanziell verbunden? (Ebaugh, 2012)

Wichtig wäre an dieser Stelle zu erwähnen, wie diese Bewegung sich im Vergleich zu anderen religiös inspirierten Bewegungen unterscheidet. Ebaugh, erinnert sich an Spanien, als sie einen Freund aus der Gülen-Bewegung in Houston anrief, um nach einer Ansprechperson in Spanien zu fragen. Dieser entgegnete ihr, dass er keinen kenne, jedoch habe er einen Freund in Istanbul, der einen anderen Freund aus Spanien kenne, der wiederum einen Freund aus der Gülen-Bewegung kenne. Die Gülen-Bewegung habe keine zentrale Instanz, von der man Kontaktdaten von irgendwelchen Gülen-Inspirierten Institutionen aus irgendeinem Land einholen kann. Andere Bewegungen hingegen hätten eine Zentrale, wo man anruft und sämtliche Adressdaten und Telefonnummern, von Institutionen aus irgendeinem Land, erfragen kann. Der Grund warum die Gülen-Bewegung keine Zentrale hat, läge einfach darin, dass die Einrichtungen als unabhängige Einheiten agieren, die von lokalen Gemeinschaften verwaltet und finanziert werden. In Deutschland gibt es 25 inspirierte Gülen-Schulen, an denen sowohl Deutsches als auch Deutsch-Türkisches Personal arbeitet, wobei die meisten Deutsche sind.

Laut Ebaugh variieren die Spenden  in der Bewegung zwischen 10 – 25 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} des Einkommens. Es gibt Geschäftsleute in der Türkei, so sagt sie, die die Dienst-Projekte mit jährlich einerMillion Dollar unterstützen.

Auf die Frage aus dem Publikum, ob denn die Schulen auch deutsche Schüler haben, antwortet Ebaugh, dass diese Schulen wenig Zulauf von Einheimischen finden und begründet es damit, dass die Deutschen eine andere Vorstellung von Türken hätten und es daher dort Berührungsängste geben könnte. Hier denke ich, dass es eine der größten Herausforderungen der Gülen-Bewegung ist, einige Stereotypen zu durchbrechen. Der Appell Ebaughs an die Mehrheitsgesellschaft, sich in Bezug auf Annäherung und Ängste zu überwinden, war ebenfalls nicht zu überhören.

In der New York Times am 12. September 2001 war Gülen der erste islamische Gelehrte, der die Terroranschläge am 11.09.2001 verurteilte. „Am 21. September 2001 verdeutlichte er seinen Standpunkt in der Washington Post abermals mit den folgenden Worten“:

Wir verurteilen den jüngsten Terroranschlag auf die Vereinigten Staaten von Amerika auf das Schärfste und fühlen den Schmerz des amerikanischen Volkes tief in unserem Herzen nach. Der Islam verabscheut Terrorakte. Eine Religion, die bekennt: „Wer ungerechtfertigt einen Menschen tötet, tötet die ganze Menschheit“, kann die sinnlose Ermordung Tausender nicht dulden. Unsere Gedanken und Gebete sind bei den Opfern und ihren Angehörigen. (Ebaugh, 2012)

Gülen selbst unterstützt den Demokratisierungsprozess auf der ganzen Welt, da er der Ansicht ist, „dass die Demokratie die angemessenste und effektivste Form der Herrschaft in der globalisierten Welt ist.“ Demokratie und Islam seien miteinander vereinbar. Außerdem betont er, dass 90 Prozent der islamischen Gebote das Privatleben und die Familie betreffen. Fünf Prozent seien staatliche Angelegenheiten, und „diese lassen sich nur im Rahmen einer Demokratie regeln.“ Ganz nach dem 1. Artikel im GG macht Gülen „geltend, dass politische und ideologische Akte und Interpretationen, die brutale Terroranschläge rechtfertigen und unterstützen, gegen die grundlegenden Prinzipien der Religion verstoßen. Und diese grundlegenden Prinzipien müssen das Bildungssystem Muslimen wie auch Nichtmuslimen vermitteln. Wer Jugendlichen eine gute Ausbildung bietet, sorgt dafür, dass sie den Terrorismus als destruktiv und unmoralisch und als einen Verstoß gegen die Menschenwürde betrachten.“ (Ebaugh, 2012)

Um die Teilhabe junger Muslime in der Gesellschaft zu ermöglichen, birgt meiner Meinung nach die Gülen-Bewegung Dynamiken, die von immenser Wichtigkeit für Deutschland sind. Dieses Potential gilt es zu erkennen und zu nutzen. Die wissenschaftliche Durchleuchtung Ebaughs ist größtenteils gelungen. Wie oben auch erwähnt wurde, hat Ebaugh bezüglich Europa neue Erkenntnisse über die Bewegung gewonnen. Ich denke hier stehen junge Wissenschaftler in der Aufgabe, die Bewegung in den europäischen Ländern, den befindlichen Entscheidungsträgern verstehend zu vermitteln, damit ein breites Spektrum an Zusammenarbeit mit der Hizmet-Bewegung bzw. Gülen-Bewegung gewährleistet werden kann. Nach den obigen Ausführungen, kann auch gesagt werden, dass die Bewegung eine Brücke zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen darstellt. Die Grundsätze der Bewegung, Toleranz, Respekt und gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung, sprechen jedenfalls für sich. Es scheint, dass wir von der Hizmet-Bewegung in Deutschland noch einiges hören und lesen werden. In diesem Blog wird dies nicht der letzte Artikel über dieses Thema sein.

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern. Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein. Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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