Subsidiaritätsprinzip und Migrantenselbstorganisationen
Die Geschichte des Subsidiaritätsprinzips ist lang und reicht bis ins Zeitalter der Reformation zurück. Mal mehr, mal weniger beachtet, ist es zu einer grundlegenden Maxime der christlich-abendländischen Soziallehre mit nicht unwesentlichem Einfluss auf die Staatslehre und -theorie geworden. Es bezeichnet ein gesellschaftspolitisches Ordnungsprinzip , nach dem übergeordnete gesellschaftliche Einheiten, insbesondere der Staat, nur solche Aufgaben an sich ziehen dürfen, zu deren Wahrnehmung untergeordnete Einheiten wie das Individuum, Familie und Interessengruppen nicht in der Lage sind. Staatliche Organe sollen nicht unnötig in das Leben von Menschen oder in Tätigkeiten kleinerer öffentlicher Gefüge eingreifen. Erst wenn diese dazu nicht mehr in der Lage wären, sollen größere öffentliche Einheiten wie die Gemeinde, das Land oder der Zentralstaat das Recht haben, eingreifen. Dieses Prinzip bietet auch praktisch Vorteile, etwa in der Art, dass Kompetenzen dort geschaffen werden, wo sie den Problemen am nächsten sind. Auch werden die Ressourcen der übergeordneten Einheiten geschont, deren Aufgabe im Lichte des Subsidiaritätsprinzips als Hilfe zur Selbsthilfe verstanden werden kann.
In seiner klassischen Form fand das Subsidiaritätsprinzip Eingang in die Gesetzgebung der Weimarer Republik, wo die Beziehung des Staates zu freien Wohlfahrtsverbänden auf dieser Basis geregelt werden sollte. Das ging so weit, dass dem Staat ein Betätigungsverbot – „Funktionssperre“ genannt – auferlegt wurde. Diese Funktionssperre besagte, dass öffentliche Wohlfahrtspflege in das Betätigungsfeld der privaten Wohlfahrtspflege auch dort nicht eingreifen dürfe, wo private Einrichtungen noch geschaffen werden könnten. Dieses klassische Verständnis wurde nach Gründung der Bundesrepublik im Rahmen der „Subsidiaritätsstreit“ genannten Debatten und im weiteren Verlauf der Geschichte durch einen „ neuen Subsidiaritätsbegriff“ abgelöst. Eine Bedeutungsminderung des Subsidiaritätsprinzips ist bereits im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1967 zu erkennen. Seine Ausführungen basierten auf einem „säkularisierten“ Subsidiaritätsverständnis, demzufolge die Arbeitsteilung zwischen öffentlichen Trägern und Wohlfahrtsverbänden aus Zweckmäßigkeits- und Wirtschaftlichkeitsgründen geboten sei.
„Do, ut des“-Prinzip als Einfallstor für staatliche Gängelung
Trotz der Verfassungsmäßigkeit der „Funktionssperre“ nahm in den Folgejahren der relative Anteil der öffentlichen Einrichtungen und Dienste ständig zu. Die freien Träger wurden zunehmend in Planungsaktivitäten der öffentlichen Träger einbezogen und ihr Handlungsspielraum durch Gesetze mit baurechtlichen, personellen, administrativen und konzeptionellen Vorgaben faktisch immer weiter eingeengt. Die Beziehung zwischen den Trägern der Wohlfahrtspflege kann daher nicht mehr länger als schlichtes Vorrang-Nachrang-Verhältnis beschrieben werden.
Vielmehr handelt es sich um einen komplexen Kooperationszusammenhang, der durch gegenseitige Abhängigkeiten und Verflechtungen zusammengehalten wird. Dieses System wechselseitiger Austauschprozesse zwischen föderativem Staat und der freien Wohlfahrtspflege wird als „Korporatismus“ bezeichnet. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass die Vertreter der freien Wohlfahrtspflege einen privilegierten Zugang zu den Verfahren und Prozessen der Formulierung sozialpolitischer Programme und Maßnahmen erhalten, durch sozialrechtliche Regelungen privilegiert, an der Umsetzung sozialpolitischer Programme und Maßnahmen bevorzugt beteiligt werden und durch öffentliche Zuschüsse und Förderprogramme Unterstützung erfahren.
Im Gegenzug instrumentalisiert der Sozialstaat die infrastrukturellen, personellen und sozialkulturellen Ressourcen und den bereichsspezifischen Sachverstand der Wohlfahrtsverbände für die Realisierung sozialpolitischer Ziele und Programme. Diese Beziehung zwischen dem Staat und den großen privaten Wohlfahrtsverbänden wurde im Folgenden teilweise durch eine „neue Subsidiaritätspolitik“ zu Gunsten kleinerer, solidarisch organisierter Initiativen und Selbsthilfegruppen erweitert und auf diese angewandt.
Zartes Pflänzchen Pluralismus unter der bürokratischen Käseglocke
In dieser Selbsthilfe-Diskussion der 1970er und 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts diente der Gedanke der Subsidiarität nun als Argument für eine Stärkung der Position dieser neuen Formen und Initiativen gegenüber den überkommenen Großverbänden, sowie zur Legitimation ihrer Förderansprüche. Faktisch entstand eine „Pluralisierung der Trägerlandschaft“.
Zu den genannten solidarisch organisierten Initiativen und lokalen Selbsthilfegruppen zählen auch die Migrantenselbstorganisationen (MSO). Diese sind mittlerweile in einer Vielzahl von Tätigkeitsfeldern unterwegs. Neben spezifischen Zielen wie der Förderung von Sport, Sprache, Religion oder Kultur spielen direkt oder indirekt immer auch die Beschäftigung und die Auseinandersetzung mit den Themen Migration, Integration und bürgerschaftliches Engagement eine große Rolle. Ihre Zahl und ihre Tätigkeitsfelder nehmen ständig zu. Dabei gibt es solche, deren Angebote sich nur an Migranten richten, andere wiederum sind offen für alle Mitbürger.
Ein kennzeichnendes Merkmal ist ihre Unternehmungsform als gemeinnützige Vereine. Als solche profitieren sie von eben diesen Strukturen und Förderungen, die sich infolge der Subsidiaritätsdebatten etabliert haben. Sie haben Zugang zu öffentlichen Zuschüssen und Förderprogrammen. Sie haben spezialisierte Ansprechpartner bei den Behörden und genießen planerische Gestaltungsfreiheit im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten. Und eben dieser gesetzliche Rahmen bestimmt entscheidend darüber, in welchem Umfang die MSO und alle anderen freien gemeinnützigen Träger Anteil an der Wohlfahrtspflege haben. Die zunehmende Reglementierung der Handlungsspielräume der Freien Wohlfahrtsunternehmungen wie den MSO durch Gesetze mit baurechtlichen, personellen, administrativen und konzeptionellen Vorgaben ist durchaus geeignet, schöpferische Potenziale durch eine übermäßige Bürokratisierung zu untergraben. Sie dient andererseits aber der Sicherung einer angemessenen Wahrnehmung der übernommenen Aufgaben.
Wie wir gesehen haben, lässt sich ein direkter Anspruch aus dem Subsidiaritätsprinzip auf Abtretung bestimmter Kompetenzen oder Förderung nicht herleiten. Vielmehr sind die MSO im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten angehalten, ihre Tätigkeiten transparent und in Verantwortung zu ihrer Treuepflicht gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung auszuüben.
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