Konvertiten-Geschichten haben für gewöhnlich ein bekanntes Format. Eine Person, die eine neue Religion angenommen hat beschreibt, wie es zu der Überzeugung kam. Wie also eben diese Religion, zumindest für sie selbst, die richtige geworden ist. Doch kürzlich erschien bei uns eine Konvertiten-Geschichte, die nach eigenen Angaben anders ist als die anderen. Sie unterschied sich vor allem darin, dass sie gar keine Konvertiten-Geschichte war, sondern ein Beitrag über Homosexualität im Islam. Das fand ich verwirrend. Ich wartete beim Lesen auf den Teil der Geschichte der nun die angekündigte Aufklärung über die persönliche Religionswahl brachte, fand aber nur einen verständnislosen Wutausbruch, basierend auf orientalistischen Darstellungen eines Glaubens, den der Autor angeblich hasst aber nicht lassen kann. Ich überlegte hin und her ob ich mir die Zeit nehmen sollte darauf zu antworten. Sollte ich diesen, doch eher persönlichen, Beitrag überhaupt ernst nehmen?
Das Thema Homosexualität im Islam, wie auch im Christentum und Judentum, ist sehr sensibel. Alle drei Religionen sehen das Phänomen eher negativ. Doch in allen drei Religionsgruppen gibt es auch Gegenargumente und zumindest gute Gründe um Homosexualität mit Toleranz zu begegnen; Sünde hin oder her. Für Christentum und Judentum kann ich nicht sprechen. Aber zu den Aussagen des Beitrages will ich nun doch etwas sagen.
Die islamische Vorstellung von Sünde und Hürde
Um zu verstehen, was nun die zurzeit geltende Einstellung zur Homosexualität im Islam ist, muss man zwei Konzepte verstehen: 1) ab wann ist etwas eine Sünde und 2) was hat er im Islam mit Hürden auf sich? Eine Sünde ist etwas, das ich aktiv tue. Wenn ich darüber fantasiere meinen nervigen Chef aus den Fenster zu werfen sind das unter Umständen gefährliche Gedankenspiele, aber es ist noch kein Gesetzesbruch und auch noch keine Sünde. Wenn wir also davon ausgehen, dass Geschlechtsverkehr mit Partnern aus dem eigenen Geschlecht Sünde ist, dann sprechen wir von einer aktiven Beteiligung, nicht von der Lust selbst. Da stellt sich natürlich die Frage, warum wird man mit diesen Gefühlen geboren, wenn man ihnen anschließend nicht nachgehen soll?
Das ist eine berechtigte Frage. Und es gibt durchaus Forderungen innerhalb der Islamischen Gesellschaft noch einmal zu überdenken, ob es sich hierbei wirklich um Sünde handelt, aber mehr dazu später. Vorerst befasse ich mich mit der aktuellen Interpretation und dazu muss ich das Konzept der Hürde erklären. Nach Islamischen Glauben begegnen alle Menschen im Leben den für sie vorgesehenen Hürden. Der eine wird mit einer schweren Behinderung geboren, der andere in Armut, der Dritte wird einen schrecklichen Krieg miterleben… In jedem Fall sind es Lasten, die uns auferlegt sind, mit der Herausforderung sie anzunehmen, mit Würde zu tragen und wenn möglich etwas Positives daraus zu ziehen. Eine Last ist immer mit der Frage verbunden, wie gehst Du jetzt damit um? Im Falle eines Menschen, der homosexuell geboren ist, ist die derzeit geltende Ansicht, dass es sich hier um eine Hürde handelt. Wie gehst du mit diesen Gefühlen um? Gibt es etwas Positives, das du daraus schöpfen kannst? Nimmst du diese Last mit Würde auf?
Ein Beispiel aus der christlichen Gesellschaft
Im Prinzip ist die Erwartungshaltung im Islam ähnlich wie die im Christentum. Und da ich, offen gestanden noch nie einen muslimischen Homosexuellen kennengelernt habe – und für das Protokoll: nein man wird kein Abtrünniger dadurch, dass man schwul ist – kommt mein Beispiel aus der christlichen Ecke.
Als ich noch in Dubai lebte, hatte ich viel Kontakt mit Menschen aus den Philippinen, die alle streng gläubige Katholiken waren. Einer von ihnen war homosexuell. Auch er war streng gläubig, war verheiratet und hatte zwei Kinder. Er ging sehr offen damit um. Alle wussten Bescheid, auch seine Frau, und es war OK. Er sagte mir, er habe sich für Jesus entschieden und somit dafür, seinen sexuellen Wünschen nicht nachzugehen. Damit hatte er seinen Frieden geschlossen und er sah seine Familie und vor allem seine zwei – übrigens zuckersüßen – Kinder als Belohnung dafür. „Ich liebe meine Frau“, erzählte er mir, „auch wenn sie in eben diesen einen Bereich nicht meiner ultimativen Fantasie entspricht, sie ist ein toller Mensch. Sie akzeptiert mich so wie ich bin und ist eine tolle Freundin und Partnerin. Ich bin sehr dankbar, dass ich sie in meinen Leben habe.“ Neugierig fragte ich auch seine Frau, ob es sie denn nicht störe, dass ihr Mann sie jetzt nicht unbedingt begehrenswert im sexuellen Sinn findet. „Natürlich ist es irgendwie schade“, meinte sie, „aber ich liebe ihn trotzdem und ganz ehrlich gerade weil er schwul ist, ist er ein unglaublich toller Partner. Er ist mein bester Freund und ein toller Vater.“ Die beiden schienen trotz sexueller Defizite glücklich zu sein. Ich glaube, dass lag vor allem daran, dass sie ehrlich zueinander waren und daran, dass er mit seinem Glauben und seiner sexuellen Orientierung seinen Frieden gefunden hatte. So in etwa könnte auch ein gesunder Islamischer Umgang mit diesem Thema aussehen.
Die Praxis und die Theorie
Es wäre eine Lüge, wenn ich behaupten würde, alle Muslime gingen offen und verständnisvoll mit ihren homosexuellen Glaubensgenossen um. Praxis und Theorie sind eben leider oft weit voneinander entfernt. Das ist aber nicht nur in der islamischen Gesellschaft so. Umso wichtiger ist es, noch was zur Theorie zu sagen. Homosexualität ist im Islam nicht strafbar. Da werden jetzt manche Muslime protestieren, aber tatsächlich schreibt der Islam eigentlich keine irdischen Strafen für sexuelle Orientierung vor. Auch ist das Bespitzeln und Verletzen der persönlichen Privatsphäre von Bürgern streng verboten. Sofern es also Sünde ist, geht es niemanden etwas an, sofern es nicht in der Öffentlichkeit stattfindet. Das gilt aber auch für heterosexuelle Paare und hiermit komme ich zum Thema Ehe im Islam. Zu diesem Thema machte der Autor der Konvertiten-Geschichte zwei doch sehr seltsame Aussagen. 1) Eine Hochzeit gibt bekannt, dass man ab jetzt miteinander schläft und somit sind die sexuellen Aktivitäten des Paares eben nicht mehr privat. 2) Im Islam ist es auch Sünde für verheiratete Paare sich zu riechen, zu berühren und zu sehen, außerdem sei Sexualität bis ins kleinste Detail reguliert.
Die Ehe im Islam
Während Sexualität heute sicherlich in nahezu jeder Ehe eine Rolle spielt, dreht sich bei einer Eheschließung bei Weitem nicht alles nur um Sex. Bei einer eher „westlichen“ Hochzeit können wir zwar davon ausgehen, dass die beiden zur Hochzeitsnacht wohl kaum in getrennten Betten schlafen werden. Bei einer streng gläubigen islamischen Ehe ist das nicht unbedingt gesagt. Nicht selten lassen sich die frisch verheirateten Paare erst einmal Zeit, zumal sie vor der Ehe noch nicht miteinander intim gewesen waren. Eine Hochzeit nach islamischer Vorstellung ist in erster Linie offizielle Kundgebung einer Partnerschaft. Sie sagt aus, dass diese beiden Menschen sich fortan unterstützen werden. Zur Zeit des Propheten war es nicht selten, dass Menschen verheiratet waren, ohne jemals miteinander zu schlafen. Zum Beispiel, wenn jemand eine Witwe oder alleinstehende ältere Dame heiratete, um sie zu versorgen, denn alleinstehende Frauen hatten es damals oft sehr schwer. Oft war die Ehe dann eine Aufnahme in den Schutz der Familie. Es gab damals verschiedene Gründe jemanden zu heiraten und es hatte nicht immer etwas mit Sex zu tun. Der einzige Unterschied ist, wenn es nun doch zu intimen Bindungen kommt, so ist es legitim weil eine Ehe besteht.
Innerhalb der Ehe ist aber so ziemlich alles erlaubt, sofern beide damit einverstanden sind. Die Aussage Paare dürfen sich nicht berühren oder riechen ist absurd. Der Prophet selbst plädierte dafür dass Männer sich mehr Zeit für Vorspiel im Liebesleben mit ihren Ehefrauen lassen, damit diese auch auf ihre Kosten kommen. Es dürfen beide also durchaus Spaß am Sex haben. Selbstverständlich dürfen sich verheiratete Paare unbekleidet sehen, riechen und berühren.
Huris
In Bezug auf Sexualität kam die Konvertiten-Geschichte, die keine war, auch auf Huris zu sprechen. Das auf muslimische Männer 77 Jungfrauen warten ist eine Vorstellung, die schon lange die Runde macht, jedoch nirgends glaubwürdig belegt werden kann. Zum einen ist die Zahl 77 völlig aus der Luft gegriffen, zum anderen stützt sich diese Aussage auf die Annahme, dass es sich bei „Huris“ um Jungfrauen handelt. Für den Laien sei erstmal gesagt, dass der Koran erwähnt, dass die Gläubigen im Paradies sogenannte Huris zur Seite haben. Aber was ist ein „Huri“? Das Wort Huri beschreibt einen Begleiter von absoluter Reinheit. Die von Orientalisten bevorzugte Interpretation ist, dass es sich hier um Jungfrauen handelt. Aber viele Gelehrten haben schon lange darauf hingewiesen das es sich hier genauso gut um Engelwesen handeln könnte, weil diese absolut rein sind. Eine weitere mögliche Interpretation ist, dass die im Paradies lebenden Menschen absolut rein sind, ihre Sünden vergeben, und sie befreit von negativen Neigungen wie Neid, Habgier oder Boshaftigkeit sind. Und wer sagt denn, dass es sich hier unbedingt um Frauen handelt? Der Koran verspricht auch, dass das Paradies alles beinhaltet, was wir uns wünschen und mehr noch, als wir uns vorstellen können. Wer sagt denn, dass ein Homosexueller dann nicht auch seinen knackigen Typen bekommt, und die Frau ihren starken, sensiblen Romantiker, der den ganzen Tag mit ihr shoppen geht?
Zum Paradies sagt Gott zu Moses a.s., das es der Ort sei, den noch kein Auge gesehen und noch kein Ohr gehört habe. Die Vorstellung von Paradies soll die Gläubigen motivieren. Auch dazu, sich unter Umständen im Diesseits zurückzuhalten. Selbst wenn es sich also bei Huris um Jungfrauen handeln sollte, dann nur weil gerade Junge unverheiratete Männer, die außerhalb der Ehe zur Abstinenz verbannt sind, sich in so einer Vorstellung Trost holen können. Und das Frauen nicht konkret Männer angeboten werden liegt eher daran, dass Frauen bei Ihren Wünschen doch um einiges komplexer sind, und sich unter „alles ,was ihr euch nur wünschen könnt“ meist ohnehin vielmehr vorstellen können.
Lot und die Aufrufe zur Reform
Die Geschichte von Lot und seinem Volk ist bei allen drei Religionen der Auslöser für die Debatte um Homosexualität. Auch im Koran besteht die Aussage, die Männer haben ihre Frauen verschmäht und sich stattdessen Männern zugewandt. Jedoch ist es falsch zu behaupten, dass die Zerstörung des Volkes von Lot lediglich mit Homosexualität zu tun hatte. Zumindest in der Koran-Version der Geschichte bekommt Lot Besuch von Engeln in Menschengestalt. Sein Volk verlangt die Gäste auszuliefern mit der Absicht, sie sexuell zu misshandeln, doch Lot weigert sich und nimmt seine Gäste in Schutz. Daraufhin wird Lot gewarnt mit seiner Gefolgschaft das Volk zu verlassen, um den drohenden Unheil zu entgehen. Erst als alle unbeteiligten Bürger den Ort verlassen haben, so der Koran, wird die Zerstörung vollstreckt.
Interessant hierbei ist, dass eben nahezu das ganze Volk von Lot am ausschlaggebenden Akt beteiligt waren. Das ein ganzes Volk tatsächlich homosexuell ist, ist eher unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist es, dass es sich hier nicht um Gefühle wie Liebe und Zuneigung handelte, sondern um einen systematischen Missbrauch der Sexualität zu politischen oder gesellschaftlichen Zwecken. Da stellt sich nun die Frage, was hier die eigentliche Sünde war? War es das Befürworten von Gefühlen gegenüber Menschen des eigenen Geschlechts, oder war es ein aktives sexuelles Verhalten, das kalt und kalkuliert, und scheinbar nicht selten auch gewaltsam war? Diese Frage stellen immer mehr Muslime, die sich eine Reform der aktuellen Sichtweise dieses Themas wünschen. Eine Reform würde bedeuten dass sich die Gelehrten noch einmal neu an den Tisch setzen, die Verse noch einmal genau durchdiskutieren und die neue potenzielle Sichtweise in Betracht ziehen. Könnte sie zutreffen? Was spricht dafür? Was spricht dagegen? Wurde etwas missverstanden, ja oder nein? Erst durch eine solche Diskussion ist eine mögliche neue Interpretation der Geschichte im offiziellen Sinne möglich.
Konvertiten-Geschichten und ihr Format
Kommen wir noch einmal zurück zu unserer Konvertiten-Geschichte, die im Wesentlichen eine Schimpftirade zum Thema Religion und Sexualität war. Dass der Autor mit den oben genannten Punkten so wenig vertraut war, verwirrt mich besonders. Denn die meisten Konvertiten verbringen sehr viel Zeit mit Recherche bevor sie sich für diese Religion entscheiden. Die Aussage, es sei eine „Hass-Liebesbeziehung“ und er könne „nicht mit und nicht ohne“ den Islam, passt eher zu jemandem, der als Muslim geboren ist, den Islam nur aus den Familientraditionen und aus den Medien kennt, und eigentlich nur deswegen „nicht ohne“ kann, weil er schon immer Muslim war und seine Eltern nicht enttäuschen will. Aber als Konvertit hat man doch den Luxus der nüchternen Betrachtung. Und konvertieren tut man doch nur dann wenn man wirklich von etwas überzeugt ist. Warum also Anhänger eines Glaubens werden oder bleiben, den man doch scheinbar eher lächerlich findet? Da würde mich doch sehr die tatsächliche Konvertiten-Geschichte des Autors interessieren, sofern es da wirklich eine gibt.