„(…) Wenn jemand einen Menschen tötet (…), so ist es, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, so ist es, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.“(Koran 5:32)
Über Gott im Islam nachzudenken, heißt, auch über denselben Gott im Judentum sowie im Christentum nachzudenken. Der Gott im Islam versteht die Beziehung zum Menschen als eine dialogische Kommunikation, welche rational- und vernunftgeleitet erfolgen muss. Es stellt sich an der Stelle die Frage, wie kann ein dialogischer Prozess stattfinden, welcher durch Gewalt bzw. Zwang entstanden ist? Wie kann der Gott das Leben eines einzigen Individuums so wertschätzen aber zugleich seine Anhänger Gewalt in seinem Namen ausüben?
Selbstverständlich könnte man die Fragen noch erweitern, aber diese sollten fürs Erste genügen. In diesem Artikel soll keine theologische Diskussion geführt oder eine Verteidigungshymne auf den Islam gesungen werden. Ich glaube, dass der Gott, welcher sich als „der barmherzige“ definiert, dies gar nicht nötig hat. Vielmehr gilt das für die Menschen, die sich auf die Religion berufen!
Barmherzigkeit statt Konfrontation
Das allgemeine Verständnis, welches die meisten Anhänger der drei monotheistischen Religionen voneinander haben, war und ist vom Zusammenprall mit Ungläubigen und Feinden geprägt. Dieses Verständnis hat sich in der islamischen Welt mit dem Niedergang der politischen und ökonomischen Überlegenheit gegenüber der westlichen Welt verhärtet. Die empfundene Schmach entwickelte sich zu einem Hass auf die eigene Geschichte und versperrte letztlich den Blick auf die eigene Tradition.
Die Eigenschaft Gottes, mit der Gott sich im Koran am häufigsten beschreibt, ist die Barmherzigkeit. Diese gilt als eine Wesenseigenschaft Gottes. Die traditionelle islamische Mystik des Mittelalters, sieht die „Gott-Mensch-Beziehung“ als ein Angebot Gottes an den Menschen, die Liebe Gottes erfahrbar zu machen. Die Religion gilt als ein Angebot Gottes an Menschen, seine Liebe sowie Barmherzigkeit zu erfahren und daran zu partizipieren. Dieses Angebot muss in Freiheit angenommen werden . Denn ohne Freiheit kann es keine Liebe geben.
Die Freiheit des Individuums im Islam
Der Koran hält die Freiheit des Individuums für elementar, denn wie erklärt man sich sonst die lange Liste der Propheten, welche die Menschheit auf dem Weg der Liebe Gottes unterstützen sollten. In den Lehren keines Propheten gibt es einen Text, der die Menschenrechte und ihrer auf Gerechtigkeit basierende Bedeutung verneinen würde.
Nun muss jede Betrachtung auf die aktuelle islamische Welt diese Darlegung des Islams in Frage stellen. Denn wir erleben einen Islam, der nicht im geringstem etwas mit der Barmherzigkeit des Gottes zu tun hat. Jede Untersuchung des Islams muss sich deshalb auch mit der Kultur, Historie, Politik sowie Gesellschaft auseinandersetzen. Denn Religionen entstehen nicht in einem kulturellen Vakuum. Im Gegenteil, Religionen sind stets untrennbar mit dem spirituellen, sozialen und kulturellen Umfeld verbunden. Es sind nicht die Propheten, welche die Religionen prägen, sondern vielmehr sind es die Nachfolger und deren Zeitgeist. Daher muss der Versuch, den Islam zu verstehen, gleichzeitig eine kulturelle-soziale-geografische sowie politische Betrachtung der muslimischen Welt sein.
Kein Kampf zwischen dem Westen und dem Islam
Was heute in der muslimischen Welt stattfindet, ist eine innermuslimische Auseinandersetzung, kein Kampf zwischen dem Islam und dem Westen. Wir müssen im Blick haben, dass der Islam leider zu einer Religion der Politik sowie geistlichen u.ä. geworden ist. Diese Feststellung ist nicht unerheblich, denn diese Protagonisten lassen leider nur ihre Lesart des Islams und keine andere zu.
Als Muhammed vor tausendvierhundert Jahren in Mekka den Koran verkündete, um die archaischen, starren und ungerechten Verhältnisse der Stammesgesellschaft durch die neue Vision der Gerechtigkeit und Gleichheit zu ersetzen, verwarf er die Ordnung der traditionellen arabischen Gesellschaft. Hierbei handelte es sich um eine intensive und harte Auseinandersetzung mit der bestehenden Ordnung. Nun ist eine ähnliche Vision nötig.
Der Koran hat das Glück der Menschen im Blick. Gegenwärtig ist eine neue Lesart des Korans notwendig. Mit diesem Problem haben alle großen Religionen gerungen. Man denke nur an den Dreißigjährigen Krieg(1618-1648). Die Entwicklung des Christentums von den Anfängen bis zur Reformation dauerte eintausendfünfhundert Jahre- schreckliche, blutige Jahrhunderte. Wir erleben in der islamischen Welt jede Andersartigkeit und jedes kritische Denken mit Verfolgung konfrontiert.
Kein Zwang in der Religion
„Es ist kein Zwang in der Religion“ Man könnte auch noch mehr Verse aus dem Koran zitieren, welche die eine oder andere Meinung belegen. Ich glaube aber nicht, dass der Koran das Problem ist, sondern es sind die Menschen, welche den Koran deuten. Schließlich werden die Religionen nicht so sehr durch die Texte bestimmt, sondern eher durch das, was die Menschen aus ihnen machen. Auch die aggressiven Haltungen berufen sich auf den Koran. Dies wird sich nicht ändern, solange die Demokratie nicht auch in die Erziehung und in das Alltagsleben Einzug gehalten hat.
Es ist an den Muslimen, das Beste aus ihrer Religion zu machen. Der Boden dafür muss aber bereitet werden, so in den Worten des berühmten persischen Dichters und Mystikers Saadi:
„Der segenreiche Regen schafft
im Garten Tulpen,
in salzger Steppe bringt er-
Unkraut nur hervor.“