Seit mittlerweile fast zwei Jahrzehnten ringen die Muslime mit der Islamkritik, die sich unmittelbar nach dem 11. September 2001 entwickelte und über die Jahre zu einem gesellschaftlich und politischen Selbstläufer wurde. Es hat seriöse und weniger seriöse Islamkritiker gegeben, sei es mit einem muslimischen oder nichtmuslimischen Hintergrund. In der Vergangenheit gab es primär nichtmuslimische Islamkritiker in der Öffentlichkeit, die zwar hart, jedoch fair in ihrer Kritik blieben und dabei zwischen Islam und Islamismus und Islamisten und Muslimen unterschieden. Einer dieser Islamkritiker war der vergangenes Jahr verstorbene Peter Scholl-Latour, welcher ein Nah-Ost-Experte, Journalist und Buchautor war.
Die Geburt der Islamkritik von Personen mit muslimischem Hintergrund fand bereits vor knapp zehn Jahren statt. Jedoch wurde diese erst innerhalb der letzten sechs bis acht Jahre von der Öffentlichkeit, sprich von den Medien und sozialen Netzwerken, wahrgenommen. Diese lassen die Islamkritiker für sich arbeiten, indem sie ihnen freien Lauf in ihrer Kritik lassen. Die überwiegend nichtmuslimische Gesellschaft liest und sieht jeden Tag aufs Neue Gräueltaten, verübt im Namen des Islams. Diese Art von Berichterstattung ist ein Nährboden für die Distanzierung und die wachsende Abneigung gegenüber dem Islam und Muslimen. Islamkritiker nutzen diese Nische, indem sie diese Ressentiments teilen und schüren.
Jedes Jahr werden neue Bücher von Islamkritikerinnen und Islamkritikern herausgegeben, welche die Bestsellerlisten anführen, während die sachlich-spirituellen Bücher aus muslimischer Feder kaum einen Absatz machen oder größere Aufmerksamkeit genießen. Da die Masse durch erstere Lektüre provoziert wird und zum großen Teil durch Fehlinformationen lernt, müssen sich Muslime die Frage stellen, was sie als normale – gläubige – Mitbürger dagegen unternehmen können.
Aufklärung des Islams im abendländischen Sinne
Was sich die europäische Gesellschaft wünscht und die derzeitigen Islamkritiker fordern, ist eine Aufklärung des Islams im abendländischen / westlichen Sinne. Wie man sich das vorstellen kann, ist das schwerlich zu erwarten, denn die geistesgeschichtliche Entwicklung des islamisch geprägten Kulturraumes ist eine andere als die des Abendlandes. Jahrhundertelang standen sich Religion und Wissenschaft feindselig gegenüber, während im islamischen geprägten Raum insbesondere die Mathematik, die Medizin, die Chemie und die Astronomie gerade durch die Einbindung der Religion aufblühten. Der Politikwissenschaftler Dr. Samir Suleiman schreibt, dass „der Islam dem Intellekt des Menschen einen großen Stellenwert beimisst. Schließlich zeigt bereits ein kurzer Blick in den Koran, dass dort die Menschen, ob Mann oder Frau, immer wieder eindringlich dazu aufgefordert werden, ihren Verstand zu gebrauchen“.
Eine Herausforderung liegt darin, die Rationalität der Glaubenspraxis wiederherzustellen, was mit dem Verstand und persönlichen Nachdenken sehr viel gemein hat, jedoch vielerorts verloren gegangen ist. Da sich Muslime entweder gar nicht mit ihrem Glauben beschäftigen oder diesen nur durch andere Muslime, „erklären“ lassen, anstatt die eigene Ratio walten zu lassen. Der Stellenwert der Vernunft ist im Islam sehr hoch, leider jedoch in Vergessenheit geraten. Nur deshalb ist es möglich geworden, zur Zielscheibe von Islamkritikern zu werden. Die Forderung, Aufklärung im abendländischen Stil zu betreiben, hat nicht zuletzt dazu geführt, dass sich der Kern des Islams – Ratio und Herz – verlagert hat und vielen Anhängern des Islams ein Dorn im Auge geworden ist. Das Problem dabei ist, dass somit diese Missstände fälschlicherweise dem Islam zugesprochen werden (Suleiman), obwohl der Ursprung des Problems in der Einmischung des Abendlandes liegt.
Nichtsdestotrotz haben die Muslime von heute eine Aufgabe bekommen, der sie nachgehen müssen, um ihren Ruf sowie den ihres Glaubens wiederherzustellen. Es ist erforderlich, dass Gemeinsamkeiten erkannt, Unterschiede geachtet und vorhandene Dialogstrukturen untereinander – also innerislamisch – und miteinander – interreligiös – mobilisiert werden. All das kann nur geschehen, wenn man sich bildet. Hierzu gibt es ein wichtiges Zitat des Neffen und Schwiegersohnes des Propheten Muhammad, Ali, welcher sagte:
„Die Menschen sind Feinde dessen, was sie nicht kennen und was sie nicht verstehen.“
Demzufolge ist das Wissen übereinander und untereinander – insbesondere im religiösen Bereich – eines der wichtigsten Fundamente überhaupt, um Ängste und Abneigungen abzubauen.
Bildung ist eine religiöse Verbindlichkeit
Muslime sollten sich daran erinnern, dass ihre Religion die Verwendung des Verstandes zur ultimativen Pflicht macht und sie aus der Verbindlichkeit, sich dem Wissenserwerb zu verschreiben, nicht entlässt. Das Unwissen macht sie zur exzellenten Zielscheibe von Islamkritikern. Einerseits kann man den letzteren den Vorwurf der Unfairness, Verbreitung von Fehlinformationen und die Aufwirbelung von Hass und Abneigung gegenüber Muslimen machen. Andererseits müssen sich Muslime den Vorwurf gefallen lassen, dass sie sich teilweise nicht bilden, zurückziehen, in eine Opferrolle verfallen (die ihnen gar nicht (zu-)steht) und trotz allem im Gespräch bleiben.
Man kann Religion mit der Immobilienbranche vergleichen: In der Immobilienbranche ist nur eines wichtig, und zwar die Lage, dann noch einmal die Lage, und gleich danach wieder die Lage. In der Religion ist es das Gleiche, nur hier ist es die Bildung, dann noch einmal die Bildung, und gleich danach wieder die Bildung. So wie in der Immobilienbranche Bauten nur durch die Lage interessant sind und einen Wert (aus-) machen, so ist es in der Religion mit der Bildung, welche den Wert und das Verständnis des religiösen Kerns aufzeigt. Es ist ein freundlicher Appell und Aufruf an die Muslime, sich in diesen Zeiten ganz besonders ihrer Bildung – religiös wie weltlich – zu widmen. Ohne den schon religiös verpflichtenden Wissenserwerb sind Muslime ein gefundenes Fressen. Dabei könnte es ein Einfaches sein, der Kritik etwas Sinnvolles, Rationales und Faktisches entgegenzubringen, wenn man sich in den Grundlagen der Religion auskennt sowie sich der Mehrheitsgesellschaft öffnet und anstatt Rückzug, Offenheit und Dialogbereitschaft zeigt.
Im Islam ist blinder Glaube nicht erwünscht, denn die innere Überzeugung kann nur auf Wissen basieren. Ohne Wissen und Überzeugung werden die Grundlagen der Religion nicht verstanden. Das heißt, dass jeder Muslim/ jede Muslimin dafür sorgen muss, sich ein gesundes religiöses Grundlagenwissen anzueignen, damit er bzw. sie in Situationen wie die der Islamkritik gewappnet ist, um für Aufklärung zu sorgen. Sich zu bilden ist eines der wichtigsten Gebote im Glauben und ist in der Sure Al-’Alaq (96:1-5) verankert:
„Lies! Im Namen deines Herrn, Der erschuf – Erschuf den Menschen aus einem sich Anklammernden. Lies! Denn dein Herr ist gütig, Der durch die (Schreib-)Feder gelehrt hat – Den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste.“
Sei Du selbst. Sei Muslim.
Um der derzeitigen Islamkritik „Paroli“ bieten zu können, muss man als Muslime gewisse Überzeugungen hervorbringen. Das bedeutet im Klartext, dass man die Ideale der Menschenwürde, der sozialen Gerechtigkeit und Gleichheit aller, welche im Koran verwurzelt sind, verinnerlicht und auslebt. Es bedeutet auch, dass man die innerislamische Vielfalt, die Gleichberechtigung und Gleichstellung von Mann und Frau, die Unterstützung der Rede- und Meinungsfreiheit, das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit, die Einhaltung der universellen Menschenrechte, die Inklusion aller Menschen und die Freiheit der persönlichen Lebensführung fördert. Zudem gehört nicht nur eine kritische Analyse und Interpretation der religiösen Quellen zur Bildung, sondern auch die Einhaltung von Mitgefühl und Barmherzigkeit sowie die Anwendung von Herz und Verstand in allen Lebenslagen.
Wichtig ist es für Muslime, sich in den öffentlichen Diskurs zu begeben. Deshalb ermutige ich alle, sich gegen Islamophobie, Rassismus, Antisemitismus und Islam- sowie Muslimfeindlichkeit einzusetzen sowie für ein zeitgemäßes Islam-Verständnis zu werben. Jeder Mensch hat das Recht, für sich selbst zu entscheiden, wie er sein Leben gestalten möchte. Somit sollte ein jeder versuchen, sein Leben selbstbestimmt zu führen und seinen Glauben frei von Angst und Dogmen praktizieren zu können – in der Vereinbarkeit mit dem deutschen Grundgesetz und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Genau das sind die Ansätze, mit denen man den Islamkritikern und Islamgegnern gegenübertreten und sich durch das erworbene Wissen und die angeeignete Weltoffenheit stark und sicher positionieren kann.