Der kurze Horizont der Meinungsmache

Wie im Vorfeld bereits über manche Online-Portale und Printmedien – nicht selten solchen der „üblichen Verdächtigen“ – angekündigt worden war, wurde kürzlich tatsächlich eine Dokumentation, oder zumindest eine, die sich für eine solche hielt, über die Hizmet-Bewegung im WDR veröffentlicht. Vorab gesagt: Die Dokumentation lässt jegliche Professionalität vermissen, die ich mir zumindest vom WDR erwartet hätte. Woran sich das erkennen lässt, ist die einseitige Berichterstattung. Die Förderung einer Identitätsfindung bezüglich der islamischen Sozialisation wird als „Indoktrination“ abgetan. Die Zeiten, in denen in Deutschland und vielen Ländern Europas der jeweilige staatliche Herrscher auch verbindlich die religiöse Überzeugung seiner Untertanen vorschreiben konnte, scheinen im Geiste vieler Menschen immer noch nicht vorbei zu sein.

Im Rahmen des in der Sendung gezeichneten Bildes einer großen islamistischen Weltverschwörung (an der – je nach örtlichem Tätigkeitsbereich der Gülen-Gegner – jeweils auch die CIA, der Mossad, der Vatikan, die Hochgradfreimaurerei oder die formwandlerischen Echsenmenschen beteiligt sein sollen) stehen die sagenumwobenen „Lichthäuser“, die nach Meinung der Urheber des Beitrages offenbar einen zwingenden Grund abgeben sollten, so finstere kapitalistische Eitelkeiten wie die Versammlungs- und Vertragsfreiheit im Interesse des „gesellschaftlichen Fortschritts“ infrage zu stellen.

Ercan Karakoyun, der Vorsitzende des FID e.V. Berlin, beschreibt in einem Artikel im Deutsch-Türkischen Journal, er sei selbst in einem dieser Studenten-WGs gewesen.

„Auch ich habe während meiner Studienzeit in einem der so genannten „Lichthäuser“ gelebt und möchte daher beschreiben, was es mit den Wohngemeinschaften auf sich hat. Ich selbst war während meiner Studienzeit, als ich in besagter WG gewohnt hatte, in einer demokratischen Partei in Dortmund sowie in deren Jugendverband aktiv. Zudem war ich Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung. Andere Mitbewohner hatten andere politische Ansichten oder Hobbies, aber wir waren alle trotz bestehender Unterschiede von den Ideen des Hizmet-Netzwerks inspiriert und haben deshalb gerne und harmonisch zusammengelebt. Niemals wäre dies mit einer Wohngemeinschaft in Einklang zu bringen gewesen, die eine rückwärtsgewandte Lebensweise betont oder mir vorgeschrieben hätte, wann ich mich wo aufzuhalten habe.“

Ein Integrationsbeauftragter der Stadt Groß-Gerau behauptet in der Doku hingegen, in diesen WGs – in denen niemand gezwungen wird, zu leben – würde die eigentliche „religiöse Indoktrination“ stattfinden:

„Hier hinter meinem Rücken um die Ecke sind eines dieser Lichthäuser, die eigentlich illegal sind, d.h. also die sind nicht angemeldet“.

In der Dokumentation wird diese Behauptung nicht einmal ansatzweise einer Prüfung unterzogen, wie etwa an anderer Stelle im Zusammenhang mit den Bürgerdiensten. Nicht einmal, ob der gute Mann denn jemals diese „illegalen“ Aktivitäten angezeigt hätte, was gesetzlich vorgeschrieben und die Pflicht eines jeden Bürgers ist, wird nachgefragt. Denn ohne Beweis ist diese Darstellung ja ähnlich viel wert wie es eine unbegründet in den Raum geworfene Behauptung wäre, Cakir wäre korrupt oder Cakir wäre ein Faschist. Stattdessen bleibt diese Aussage im Raum stehen. Cakir überbietet seine eigene Behauptung:

„Nachmittags oder abends finden hier diese Kurse statt, keine Nachhilfe, sondern hier findet wirklich diese religiöse Indoktrination statt“.

An keiner Stelle der Dokumentation wird die Frage gestellt, ob denn Cakir diese Behauptung mit Erfahrungen aus einem Besuch in einer dieser WGs oder auf sonstige Weise untermauern konnte. Findet diese „religiöse Indoktrination“ in diesen WGs tatsächlich statt oder sollten wir lieber von religiöser Sozialisation reden?

Die Beantwortung dieser Frage bietet uns Karakoyun:

„Grundsätzlich ist die Tatsache, dass Studenten und Studentinnen in Wohngemeinschaften zusammen leben, etwas völlig Normales in Deutschland. WGs bieten Anschluss in einer neuen, mitunter noch fremden Heimat, man teilt sich die Miete, Hobbys und die Hausarbeit.

Es ist dabei aber fast selbstverständlich, dass Studenten sich für solche WGs entscheiden, in denen die übrigen Mitbewohner ähnliche Werte vertreten wie sie selbst: Ein Erzkonservativer würde wohl kaum seine Wohnung mit Anhängern der alternativen Szene teilen. Ein Veganer würde sich in einer Wohngemeinschaft, in der jeden Abend gegrillt wird, nicht wohlfühlen. Ein ruhiger, introvertierter Mensch wäre sicher in einer Party-WG nicht lange glücklich.“

Ich denke, hierbei ist es wichtig zu erwähnen, dass in einer pluralistischen Gesellschaft in Deutschland – die entgegen dem Wunsch uniformistischer Etatisten auch durch die Verfassung vorgesehen ist – die religiöse Sozialisation ein wichtiger Bestandteil der Gesamtsozialisation darstellt. Die Mehrheit der türkischen Jugendlichen wird in ihren Familien im Sinne der dort vorherrschenden religiösen Überzeugung sozialisiert – so wie dies bis vor wenigen Jahrzehnten auch in katholischen oder evangelischen deutschen Familien üblich war. In diesem Zusammenhang ist es das Normalste der Welt, wenn die türkische Familie ihre Tochter oder ihren Sohn zum Koran-Lernen schickt. Dies kollidiert – im Unterschied etwa zur Situation in Nordkorea oder im Albanien Enver Hoxhas – nicht mit der Verfassung. Im Gegenteil. Das Recht auf religiöse Erziehung liegt bis zum 14. Lebensjahr bei den Eltern.

Im Studentenalter nach dem Abitur wird sich so ein Mensch, der eine religiöse Erziehung genossen und dies nicht als Einengung oder Verletzung seines Freiraumes empfunden hat (was zwar aus Sicht „modern“ denkender „Humanisten“ ein „falsches Bewusstsein“ offenbaren mag, auf das er jedoch immer noch ein verfassungsgemäßes Recht hat), sich möglicherweise in freier Selbstbestimmung irgendwann einmal mit gleich oder ähnlich Gesinnten zusammenschließen wollen. Da liegt die Gründung einer WG auch aus praktischen Gründen durchaus nahe, um möglichst die Hürden, denen sie in ihrem Studentenleben begegnen, gemeinsam mit anderen, befreundeten Menschen meistern zu können.

Warum viele türkische Studenten sich mit den Ideen von Fethullah Gülen identifizieren, liegt in diesem Zusammenhang auf der Hand. Sie finden in ihm einen Gelehrten, der ihnen Impulse für ein muslimisches Leben in der Moderne gibt, in der sie sozialisiert wurden.

Den Eltern, die ihre Kinder in die Schulen schicken, die der Hizmet-Bewegung zuzuordnen sind, geht es wiederum um die Chancengleichheit. Sie erhoffen sich dadurch einen gerechten Zugang zum Bildungsweg. Dies soll nicht heißen, dass es außerhalb dieser Schulen keine Bildungsgerechtigkeit in Deutschland gibt. Schließlich habe ich so etwas in Deutschland genossen. Aber die schlechten Erfahrungen der Eltern, von denen ich selbst in vielen Gesprächen mit ihnen mitbekommen habe,  sprechen Bände.

In der Dokumentation wird suggeriert, dass in diesen Schulen nur Schüler mit türkischem Hintergrund unterrichtet werden. Ich weiß, dass es in diesen Schulen auch einheimische deutsche Schüler gibt. Woher ich das alles weiß? Diese Antwort liegt auf der Hand. Meine Tochter besucht eine dieser Schulen.

Könnte es deshalb nicht sein, dass hier auch Neid eine Rolle spielt? Immerhin schafft es die Hizmet-Bewegung, in privater Initiative etwas auf die Beine zu stellen, woran selbst so manche idelogische Gruppierungen scheiterten.

Der Vergleich mit der Türkei

In der Doku finde ich es auch sehr problematisch, die sozio-kulturellen Gegebenheiten in der Türkei mit Deutschland zu vergleichen. Die Türkei ist in ihrer Geschichte durch die Allgegenwart eines autoritären, stets putschbereiten Militärs geprägt gewesen, wie kaum ein anderes Land. Die „Indoktrination“ seitens der Militär-Putschisten, nicht zuletzt auch durch eine einseitige Berichterstattung von ihnen gelenkter Medien damals und die Unterwanderung des Staatsapparats durch ihre Getreuen, wurde in etlichen gerichtlichen Prozessen und heutigen Berichten diskutiert. Dies ist im wahrsten Sinne des Wortes eine „Indoktrination“ der Gesellschaft gewesen.

Prof. Dr. Helen Rose Ebaugh ist eine Soziologin und hat eine Studie über die Hizmet-Bewegung durchgeführt. Wir hatten in diesem Zusammenhang ein Interview mit ihr geführt. Auf meine Frage, ob Sie Unterschiede innerhalb der Bewegung zwischen Amerika und der Türkei zu Europa sehe, antwortete Sie:

„Zweifellos. Beispielsweise sind die Mitglieder der Bewegung in den USA tendenziell höher gebildet und legen hohe Professionalität an den Tag, während die Türken in Deutschland immer noch „Gastarbeiter” sind und tendenziell weniger gebildet und sozial schlechter gestellt sind. Dies hat Auswirkungen hinsichtlich der Akzeptanz in der Gesellschaft, darauf, wer Gülen-inspirierte Schulen besucht und auf die finanzielle Situation der Bewegung an allen Orten.

In Deutschland etwa sind junge Menschen eingewanderte Türken der zweiten, dritten und vierten Generation, die Deutsch sprechen und weniger an türkischer Identität aufweisen als jene in der Türkei oder den Vereinigten Staaten. Die meisten haben Herrn Gülen nie getroffen, interessieren sich wenig für seinen Lebenslauf und lesen seine Schriften und Predigten nicht, anders als in der Türkei, wo Herr Gülen sehr kontrovers diskutiert wird und im Fokus der Öffentlichkeit steht“.

Fragwürdige Professionalität

Der „Islamwissenschaftler“ Ralph Ghadban, spricht bei der Bewegung von einer Islamisierung der Moderne und zitiert aus einer französischen „Gülen-Webseite“. Gülen hätte dort geschrieben, dass die Abkehr von der Religion tödlich sei – die Doku nimmt einen Satz aus dem Zusammenhang heraus und macht daraus eine Forderung nach der Todesstrafe für Apostaten. Wie verkürzt und willkürlich das ist, zeigt alleine schon die komplexe Art der Rechtslehre zu diesem Thema, die der bedeutende Islamgelehrte Hayrettin Karaman, dessen Gutachten auch Gülen regelmäßig verfolgt, entwickelt hatte und in welcher er die Apostasie als mögliche Entscheidung im Rahmen der Religionsfreiheit herausgearbeitet hatte.

Dabei ist aus der Doku nicht einmal klar ersichtlich, ob es sich um Gülens Aussagen handelt und um welche Webseite es geht. Dieses komplexe Thema, dass nichts, aber auch gar nichts mit den Aktivitäten der Akteure in der Bewegung in Deutschland zu tun hat, wird als Totschlagargument an die Interview-Partner herangetragen, um ihre Argumentationen im Keim zu ersticken. Zumal in der gesamten Dokumentation keine Abhandlung Gülens selbst zu diesem Thema Platz findet. Diese Vorgehensweise entzieht sich jeder Professionalität. Die Aussage, er wäre ein Reformer, greift nicht, da er in der hiesigen muslimischen Community als Gelehrter gesehen wird und nicht als Reformer. Vom WDR hätte ich mehr Professionalität erwartet.

Beamte und Lehrerschaft unter Generalverdacht

Meines Erachtens wird diese Doku sich in den verständigen Teilen der hiesigen Gesellschaft durch und durch als Flop entpuppen. In erster Linie werden die bekannten Ressentiments der rechten Szene ausgiebig bedient und vor allem ihr wird Material serviert. Unter dem Deckmantel, sachliche Kritik gegenüber der Hizmet-Bewegung zu äußern, werden Ängste gegenüber dem Islam geschürt.

Aber ärgerlich bleibt das Ganze trotzdem. In den gülen-inspirierten Schulen ist die Lehrerschaft mit türkischem Hintergrund in der Minderheit. Deutsche Lehrer/innen sind in der Mehrzahl. Diese Lehrer sind Beamte oder Angestellte der jeweiligen Bezirksregierungen. Sie bezahlen ihre Steuern und ihre „Demokratieabgabe“ wie jeder andere. Ich würde mich nicht wundern, wenn diese Lehrer/innen rechtliche Schritte gegenüber den Machern der Doku und den WDR erwägen würden. Aufgrund des dort geäußerten Generalverdachts kann ich mir vorstellen, dass sie mit unangenehmen Fragen konfrontiert werden und in ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt werden. Doch das bleibt abzuwarten – viele Menschen in Deutschland, denen dubiose Medienkampagnen vertraut sind, lesen vielleicht von Beginn an zwischen den Zeilen.

Dem respektvollen Miteinander innerhalb der Gesellschaft, insbesondere dem Dialog der Kulturen war diese Dokumentation nicht dienlich. In der Minderheitsgesellschaft wird das Ärgernis steigen, mit ihren GEZ-Geldern solche unprofessionellen Dokumentationen mitfinanzieren zu müssen. Aufgrund dieser Tatsachen drängt sich mir die Frage auf, ob die Macher der Doku überhaupt an einem Dialog der Kulturen interessiert sind?

Identitätsfördende Bewegung

In der heutigen Gesellschaft, in der wir im 21. Jahrhundert leben, ist es mittlerweile klar, dass die dritte und vierte Generation der türkischen Einwanderer mit doppelten Identitäten heranwächst. Man spricht mittlerweile sogar von multiplen Identitäten, so wie es bei meinen Kindern der Fall ist. Es ist wohl kaum zu verkennen, dass die Aktivitäten der Bewegung Identitätsstiftend ist. Es geht hierbei nicht nur um die türkische Identität. Ich erinnere mich an ein Projekt namens „Meine liebe Stadt“. An diesem Projekt habe ich selber mitgewirkt und konnte beobachten, dass die Schüler vieles über ihre eigene Stadt erfahren haben, in der sie geboren und sozialisiert wurden.

Auch die „Deutsch-Türkische Kulturolympiade“ ist ein sehr wichtiges Projekt, bei dem die Vielfalt und die Gemeinsamkeiten der Kulturen – auf der Bühne durch die Schüler repräsentiert – erkennbar ist. Ich glaube, dass genau dies der Grund ist, warum die Hizmet-Bewegung die Sympathien von immer mehr Menschen gewinnt. Nicht nur in der Minderheitsgesellschaft.

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern. Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein. Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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