Die blonde Nadja, ihres Zeichens beste Freundin meines Bruders, lag quer auf dem Sofa und schaute fern, während mein Mann und ich uns zu zweit auf den schäbigen Drehstuhl zwängten. Im Fernsehen lief „Schwarz auf Weiß – dieser Film, in dem Günther Wallraff sich als Schwarzer zurecht gemacht hat und in Zügen besoffene Brandenburger provoziert. Allerdings sah er nicht so richtig überzeugend aus. Man wusste ja nie, ob er diskriminiert wurde, weil man ihn für einen Schwarzen gehalten hat oder einfach, weil er aussah wie ein Freak mit Schuhcreme ins Gesicht, der eins aufs die Zwölf verdient hat.
Plötzlich gab die Nadja ein ungläubiges Schnauben von sich.. „Ist doch blöd! Wer hat denn heutzutage noch was gegen Schwarze!“ sagte sie. Diesen Kommentar hätte ich gerne analysiert, aber Nadja wollte offensichtlich weitergucken. Im übrigen hasst sie tiefschürfende Gedanken, womit sie nicht alleine ist. In Ermangelung eines Gesprächspartners schreibe ich meine deshalb auf. Was ich in jenem Moment dachte, war Folgendes: Jetzt mal alle politische Korrektheit außen vor gelassen: So ganz unrecht hat Nadja nicht. – Sagen wir mal so: Etwas gegen Schwarze zu haben, ist jenseits gewisser ostdeutschen Regionen nicht mehr so richtig en vogue, glaube ich. Was natürlich nicht heißt, dass möglicherweise ein großer Prozentsatz der Bevölkerung Farbige trotzdem mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger offensichtlich diskriminiert. Aber hip ist es, zumindest unter deutschen Bildungsbürgern, nicht mehr.. Offen und getrosten Herzens diskriminieren tut der Durchschnittsbürger heute bei uns eher Muslime. Weil: Die haben ja angefangen! Mit Kopftuchtragen, Anderssein, Deutschehassen und so. Insofern hatte Nadja, in ihrer strammen blonden jugendlichen Unbedarftheit, nicht so ganz unrecht. Das mutmaße ich so.
Neulich habe ich einen hoch interessanten Test gemacht: Wir hatten Besuch. Unter anderem von einem aufgeweckten neunjährigen Knaben, der mit anhörte, wie ich erzählte, ich sei im Zug einer Reisegruppe von US-Amerikanern begegnet. „Oh! – Cool!“ lautete sein Kommentar. Ich merkte auf. „Cool findest du das?“ fragte ich zurück. „Ja. Ist doch cool.“ Kam die Antwort. „Ach. Und wie fändest du es, wenn ich Türken getroffen hätte?“ – „Nicht cool!“ Übrigens sollte ich an dieser Stelle anmerken, dass es sich bei dem Jungen mitnichten um ein unterbelichteten Sprössling eines Ehepaares handelte, das mit nationalsozialistischem Gedankengut sympathisiert. Etwa solchen wie diesem Ehepaar in den USA, die ihren Sohn „Adolf Hitler“ genannt haben und Jahr für Jahr bei ihrem heimischen Bäcker vergeblich eine Geburtstagstorte mit der Aufschrift „For little Adolf Hitler“ in Auftrag gaben. Sie haben das jahrelang immer wieder probiert, und jahrelang weigerte der heimische Bäcker sich, diesen Auftrag anzunehmen. So lange, bis die Story endlich durch alle Medien gegangen war, man dem Ehepaar ein bisschen auf den Zahn fühlte und schließlich das Sorgerecht entzog. Also – solche Eltern hatte mein kleiner Besucher nicht. Eher im Gegenteil. Vielmehr waren sowohl seine Eltern als auch der Junge selbst sehr aufgeschlossen. Er hatte viel Kontakt mit anderen Kulturen und war im Kindergarten gut mit einem türkischen Jungen befreundet gewesen. „Aha! Sehr interessant“ fuhr ich fort. „Pass mal auf. Ich sag dir jetzt mal vier Nationalitäten, und du ordnest die nach Coolheitsgrad, ja? Verstehst du doch, die Aufgabe? Also: Ein US-Amerikaner, ein Italiener, ein Türke, ein Engländer. Welcher ist der Coolste, welcher der Zweitcoolste, und so weiter?“ Die Antwort kam prompt: „Also, der aus den USA ist der Coolste. Dann kommt der Engländer. Dann der Italiener und zum Schluss der Türke!“ „Bravo!“ rief ich entzückt aus. „Du bist ein ganz schön schlaues Kerlchen!“
– Eine Erzieherin, der ich das Ganze im Nachhinein erzählte, meinte, mein Kommentar sei aber pädagogisch nicht so ganz einwandfrei gewesen. „Da hast du ihn ja in seinen Vorurteilen bestätigt! Das kannste doch nicht machen!“ So hatte ich es aber gar nicht gesehen. Der Junge hatte doch nur in einer deskriptiven Aussage in Worte gefasst, was jeder zumindest gedacht hätte. Jetzt mal jenseits von persönlichen Vorlieben. West ist eben best, das weiß doch jeder. Außerdem haben die immer noch von allen Vieren das höchste Bruttosozialprodukt, die Amis. Die Türken dagegen haben fast alle schwarze Haare, am wenigsten Geld und die falsche Religion. Gibt’s da noch Diskussionsbedarf?
Also. Tatsache ist: Unterschiedliche Nationen und ethnische Gruppen und unterschiedliche Religionen haben ein unterschiedliches Image. Wobei arabisch- oder türkischstämmige Muslime mit ziemlicher Sicherheit inzwischen ganz unten stehen, vielleicht zusammen mit den Roma. Ob das nun selbstverschuldet ist oder nicht, steht mal auf einem ganz anderen Blatt. Ich denke, es sollte möglich sein, dieses Kind beim Namen zu nennen. Und mal ganz sachlich. Ohne sich, wie es tatsächlich viele Muslime machen, in Selbstmitleid zu ergehen und zum Opfer zu stilisieren, anstatt – trotz Benennung dieses Missstandes – weiterhin immer schön vor der eigenen Tür zu kehren. Wenn das alle tun, bleibt die Straße bekanntlich sauber. De facto ist die ganze Welt aber ein einziger Kindergarten. Jeder regt sich höllisch über den Müll und die Hundewurst vor der Tür des andern auf und sagt: „So. Deshalb rühr ich jetzt auch keinen Finger mehr!“ Und darum müllen wir zu.
Ich glaube, es gibt Statistiken und Studien, die die These von den Hierarchien belegen – also, dass Muslime und Orientalen auf der Beliebtheitsskala eher im unteren Bereich anzusiedeln sind. Meine Behauptungen basieren jetzt aber mehr auf subjektiven Alltagserfahrungen. Mein US-amerikanischer Englischlehrer berichtete zum Beispiel, er habe die Erfahrung gemacht, dass die Deutschen total heiß darauf sind, Englisch zu reden. Fast alle. Anfangs hätten seine Deutschkenntnisse deshalb kaum Fortschritte gemacht. Er kam gar natürlich gar nicht auf die Idee, dass die Deutschen ihm möglicherweise nur deshalb äußerst freundlich und anglophil erschienen, weil er nicht nur US-Bürger, sondern zudem auch noch ein typischer New Yorker war, wie man sie aus Filmen kennt. Cooler geht’s ja nun kaum. Eine pakistanischstämmige Freundin von mir, eine dunkelhäutige Kopftuchträgerin, dagegen erzählte exakt das Gegenteil. Weder mit Englisch noch mit einer anderen der vier bis fünf Sprachen, die sie fließend spricht, sei sie in Deutschland – ebenfalls in Hessen – weitergekommen, und man sei ihr wenig freundlich begegnet. – Zufall oder nicht? Klar, dass sich diese Frage nicht zu Hundert Prozent beantworten lässt, denn hinzu kommt natürlich in diesen Dingen immer ein Stück „Self-Fulfilling-Prophecy“, also „sich selbst erfüllende Prophezeiung“. US-Amerikaner werden von Deutschen in der Regel als sehr selbstbewusst, offen und freundlich empfunden und auch eher dementsprechend behandelt. Kopftuchtragende Pakistanerinnen, die in Europa aufgewachsen sind, müssen schon über eine außergewöhnliche Charakterstärke verfügen, wenn sie sich zu selbstbewussten und offenen Menschen entwickeln. Zu Muslimen, die souverän zu ihrem Glauben stehen und schräge Blicke und dumme Sprüche auch nach dem zwanzigtausendsten Mal noch lächelnd wegstecken.
Tatsache ist, dass selbst weniger dunkelhäutige und weniger orientalische Migranten sich in Deutschland oft nur begrenzt willkommen fühlen. Eine Gruppe von osteuropäischen Deutschlehrerinnen, nicht nur perfekt Deutsch sprechend, sondern auch blond, berufstätig, unauffällig gekleidet und mit Deutschen liiert– also assimilationstechnisch alle erdenklichen Bedingungen erfüllend – bestätigte ebenfalls, der rote Teppich ihnen hier eher selten ausgerollt würde. Ich wunderte mich in dieser Diskussion über die Tatsache, dass viele Migranten bereits der Frage nach ihrer Herkunft mit Skepsis begegneten. Das interessiert mich nämlich selbst auch immer, schon, weil ich mich so für Sprachen interessiere. „Naja. Die Frage geht ja eigentlich noch“ erklärte Danuta. „Aber die, die darauf dann oft folgt, die gefällt mir nicht mehr so.“ Welche Frage das denn sei, wollte ich wissen, und wie aus einem Munde antworteten mehrere Frauen: „Und wann gehst du zurück?“ – Tja – darauf muss man erst einmal kommen, wenn man es selbst nie erlebt hat!
Wer selbst nie diskriminiert wurde, sollte sich kein Urteil darüber erlauben, ob manche Migranten „überempfindlich“ oder„paranoid“ sind, oder sich gar gezielt in die Opferrolle manövrieren, um Vorteile zu schinden, etwa, indem sie die Nazikeule schwingen. Tatsächlich sind zumindest unterschwellige Diskriminierungen nur selten zu beweisen. Vom hohen Ross herab kluge Reden zu schwingen ist eine höchst unsympathische und außerdem pädagogisch ineffektive Eigenschaft. Genau aus diesem Grunde habe ich eigentlich auch kein Recht, zu behaupten, Muslime würden heutzutage mehr abgelehnt als Schwarze oder andere traditionell diskriminierte Gruppierungen, denn ich bin zwar Muslima, aber nie schwarz gewesen. „Mund halten!“ heißt in einem solchen Fall das Gebot der Stunde.
Niemand, der es nicht selbst erlebt hat, kann wissen, wie es sich anfühlt, tagtäglich auf die ein oder andere Weise Ablehnung zu erfahren. Bekanntermaßen legen sich zur Feigheit neigende Kleingeister selten mit denen an, die es wirklich verdient hätten. Kaum jemand ist so wahnsinnig, eine Horde gewaltbereiter, marodierender Jungs in einem sozialen Brennpunkt zu beschimpfen oder in eine für ihre Wahhabitennähe bekannte Moschee zu spazieren, um dort Integrationsbereitschaft zu predigen. Natürlich nicht. Das traut sich keiner. Man erschlägt traditionsgemäß lieber den Boten, der Briefe überbringt und hält sich an die Schwachen. Kopftuchfrauen zum Beispiel. In einem Alphabetisierungskurs, in dem ich unterrichtete, kamen fast alle Frauen sehr unpünktlich. Die Leiterin der Volkshochschule, deren konservative Einstellung aus allen Knopflöchern lugte, hatte die Schülerinnen bereits mehrmals ermahnt, doch mit wenig Erfolg. Eines Tages kam ich zum Unterricht, als mich die einzige Schülerin, die stets pünktlich kam, bereits erwartete. Sie sah aus wie ein begossener Pudel. Sie benötigte nämlich eine Teilnahmebescheinigung, und hatte es gewagt, eine Mitarbeiterin der Volkshochschule deswegen anzusprechen. Ein Akt großen Mutes. Diese deutsche Dame, über deren am Dialekt eindeutig zu identifizierende Herkunft ich aus politischer Korrektheit an dieser Stelle nichts verrate, hatte ihr zuerst eine verbale Standpauke gehalten. Von der die Schülerin praktisch nichts verstanden hatte, nur, dass es um das Thema Unpünktlichkeit gegangen war. Der Mitarbeiterin war es wahrscheinlich zu anstrengend gewesen, zwischen den ganzen dicklichen, ähnlich aussehenden, arabischsprachigen Tuchträgerinnen zu differenzieren, was zur Folge hatte, dass ausgerechnet die einzige Pünktliche sich das unverständliche Gekeife anhören musste.
Anschließend drückte besagte Mitarbeiterin der Analphabetin, wohl wissend, dass diese den Zettel nicht lesen konnte, die vermeintliche „Teilnahmebescheinigung“ in die Hand. In dieser stand: „Frau XY ist seit dem 13.09. in unserem Integrationskurs angemeldet. Wir weisen Frau XY an dieser Stelle nochmals darauf hin, dass der Kursbeginn bereits um 15.30 Uhr ist!“ –Meine Augen füllten sich mit Tränen der Dankbarkeit über dieses einzigartige Dokument humanistischer Geisteshaltung. Dieses Zeugnis „jüdisch-christlicher abendländischer Werte“, an deren Wesen der Rest der Welt, so (der christlich-jüdische) Gott will, dereinst noch genesen wird! Übrigens ist eine „Anmeldebescheinigung“ auch keine „Teilnahmebescheinigung“. Ich sagte ihr: „Schmeiß den Brief mal ganz schnell weg!“ Daraufhin gingen wir zu einem anderen Mitarbeiter der Volkshochschule. Meine libanesische Schülerin wollte ihm den Brief des Amtes, das eine Teilnahmebescheinigung forderte, überreichen. Sozusagen als Nachweis, dass Sie seine kostbare Lebenszeit nur gezwungenermaßen, und nicht aus reiner Schikane vergeudete. Mit spitzen Fingern wies der Herr den Umschlag aber zurück und sagte mit angewidertem Unterton: „Also, rausholen müssen Sie mir den Brief bitte schon selber!“, was die eingeschüchterte Frau, Entschuldigungen murmelnd, auch sofort tat. Immerhin: Wenige Minuten später wurde ihr die geforderte Teilnahmebescheinigung ausgestellt. Hinzugefügt sei, dass diese Frau eine sogenannte primäre Analphabetin war, also jemand, der auch in seiner Muttersprache nie schreiben und lesen gelernt hat. Ausnahmslos alle diese Analphabeten habe ich als sehr lernbegierig, wenn auch zum Teil kaum lernfähig, erlebt. Gerade diese Frau aber lernte binnen Kurzem sehr gut Deutsch lesen und erklärte ihre große Pünktlichkeit nachdrücklich mit den Worten: „Was ich machen zu Hause? Immer fernsehen?“
Vielleicht wird jetzt klar, weshalb ich es für ziemlich irrelevant halte, dass die blonde Nadja nicht an Diskriminierung glaubt….