Grünen-Chef Cem Özdemir und der religionspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Volker Beck, lehnen in einem gemeinsam veröffentlichten Papier die Anerkennung der bestehenden islamischen Vereinigungen als Religionsgemeinschaften ab. Das Thesenpapier mit dem Titel „Islam einbürgern“, das die beiden Politiker vor wenigen Tagen veröffentlichten, hat immerhin eine ansehnliche Überschrift. Der an einigen Stellen destruktive Inhalt und die teilweise misslungen und pauschalen Gedankengänge jedoch scheinen genau das Gegenteil der Titelbezeichnung bezwecken zu wollen.
Rückschritt in der politischen Entwicklung
Özdemir und Beck torpedieren mit ihren Forderungen nicht nur die Fortschritte der rot-grünen Regierung in Nordrhein-Westfalen (NRW). In NRW hatte diese zwei Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, die eine Anerkennung der islamischen Vereinigungen als Religionsgemeinschaften untersuchen sollten. Ein Gutachten kam bereits zu einem positiven Ergebnis. Unterrichtete Kreise gehen davon aus, dass ein weiteres Urteil wohl Anfang des kommenden Jahres fertiggestellt sein wird.
Özdemir und Beck im Gegensatz zu Rot-Grün
Zudem stehen einige der im Papier erwähnten Positionen im nachdrücklichen Widerspruch zur geltenden Praxis in Hessen, Niedersachsen, Bremen und Hamburg – alles Orte, wo die Grünen mitregieren und wo islamischer Religionsunterricht schon seit Jahren erteilt wird. In diesen Ländern sind die islamischen Religionsgemeinschaften bereits rechtlich anerkannte Partner des Staates und stehen kurz vor der Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts. Hier wurden mit fdie den islamischen Vereinigungen Staatsverträge geschlossen, die z.B. die Besetzung öffentlich-rechtlicher Gremien, Erteilung von islamischem Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, islamische Feiertage, Bestattungsrituale, religiöse Betreuung in Krankenhäusern, Heimen und Justizvollzugsanstalten oder den Bau von Moscheen vertraglich regeln.
Grundrechte werden zur Debatte gestellt
Mit dem Thesenpapier von Beck und Özdemir wird genau genommen ein Grundrecht für die Muslime zur Debatte gestellt. Die beiden Herren werfen den muslimischen Organisationen vor, sie sprächen für eine Minderheit der Muslime. Sie ignorieren, dass gerade die im Koordinationsrat der Muslime (KRM) organisierten Dachverbände Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IR), Zentralrat der Muslime (ZMD), Türkisch-Islamische Union (DITIB) und Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) für über 75 Prozent der organisierten Muslime sprechen. Von den bestehenden etwa 2400 Moscheegemeinden in Deutschland gehören über 1800 Gemeinden den religiösen Vereinigungen des KRM an. Diese Realität scheinen Özdemir und Beck bewusst oder unbewusst der Öffentlichkeit vorzuenthalten. Sie schreiben, dass die Religionsgemeinschaften im KRM „nur rund 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime“ vertreten. Außerdem erwähnen sie Vereine, die aus Einzelmitgliedern bestehen. So wird suggeriert, dass es sich bei diesen Zusammenschlüssen um Großorganisationen handle, die nicht beachtet würden. Die islamischen Verbände im KRM sind überdies bei der Präventionsarbeit gegen Radikalisierung und Fanatismus wichtige Partner des Staates.
Zweierlei Maß in der politischen Diskussion
Die teilweise ethnisch-sprachlich geprägten Strukturen und die nach wie vor präsente emotionale Verbundenheit der Religionsgemeinschaften mit den ehemaligen Herkunftsländern scheinen ebenso eine Barriere zu sein, da sie eine kritische Darlegung im Papier finden. Die vier großen islamischen Religionsgemeinschaften seien in ihrer Zusammensetzung „national, politisch oder sprachlich, nicht aber bekenntnisförmig geprägt“. Hier stellt sich jedoch die Frage, ob nicht mit zweierlei Maß gemessen wird. Organisationen wie der Zentralrat der Juden, die griechisch-orthodoxe, serbisch-orthodoxe oder russisch-orthodoxe Kirche haben ebenso sprachliche und national-ethnische Bindungen zu ihren so genannten Herkunftsstaaten.
Austausch ist normal
Ebenfalls die in einigen Bundesländern als Körperschaften anerkannte Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) oder die Ahmaddiyya Muslim Gemeinschaft haben natürlicherweise Kontakte zu den Ländern, aus denen ihre Mitglieder ursprünglich stammen. Teilweise beteiligen sich einige dieser Verbände und Religionsgemeinschaften in der aktiven Politik. So haben beispielsweise Funktionäre der AABF bei den letzten beiden Parlamentswahlen in der Türkei sogar als Abgeordnete für die „Partei der demokratischen Völker“ (HDP) kandidiert und damit aktiv Politik betrieben. Erwähnt und kritisieren Volker Beck und Cem Özdemir diese Tatsache vielleicht deshalb nicht in ihrem Positionspapier, weil sie und die Grünen bei den türkischen Parlamentswahlen mit deutschen Steuergeldern die HDP unterstützt haben? Selbst die Katholische Kirche in Deutschland untersteht einem anderen Staat. Niemand erklärt jedoch, was völlig akzeptabel und nachvollziehbar ist, dass es ein Problem sei, wenn die Bischöfe vom Vatikan ernannt werden, der Zentralrat der Juden politische Stellungnahmen zu Israel abgibt oder die serbisch-orthodoxe Kirche politische Positionen bezüglich des Kosovo und der Situation auf dem Balkan vertritt. Dies ist nicht verwerflich. Religionen sprechen in der Regel die gesamte Menschheit an und machen keine nationalen, ethnischen, sprachlichen Unterschiede. Daher ist es ganz natürlich und nicht verwerflich, dass Vertreter von Religionsgemeinschaften Kontakte nicht nur zu einem einzigen Land besitzen, sondern zu allen Staaten, Sprachen, Kulturen, Nationen, Ethnien und Menschen der Welt.
Wo bleibt die Freiheit des Glaubens?
Das Grundgesetz schützt und garantiert in Artikel 4 Absatz 1 und 2 die Freiheit des Glaubens, des Bekenntnisses und der Religionsausübung. Religionsverfassungsrechtler erklären, dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann die islamischen Vereinigungen den Status einer Körperschaft in Deutschland bekommen. Es stellt sich daher die Frage, ob Cem Özdemir und Volker Beck diese vom Grundgesetz garantierten, freiheitlichen Grund- und Bürgerrechte für die islamischen Religionsgemeinschaften zu weit gehen. Denn sie erwähnen in ihrem gemeinsam veröffentlichten Positionspapier, dass die Anerkennung der islamischen Gemeinschaften problematisch, abenteuerlich sowie verfassungsrechtlich angreifbar sei, „weil es nichtstaatlichen Akteuren Einfluss auf Unterrichtsinhalte und auf Stellenbesetzungen an Schulen und Hochschulen gewährt“. Möglicherweise könnten die populistischen und rückwärtsgewandten Forderungen auch mit den kommenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, die alle für den 13. März 2016 terminiert sind, zusammen hängen. Im Zuge der Flüchtlings- und Sicherheitsdebatten der letzten Wochen könnten manche Politiker von den Grünen – auch vor dem Hintergrund der Erfolge von Pegida und AfD – nicht der Versuchung widerstanden haben, ihr Profil zu schärfen. Denn die Grünen verlieren deutlich in der Wählergunst und stagnieren bundesweit bei nur neun Prozentpunkten. In Baden-Württemberg, wo die Grünen 2011 erstmals eine Regierung anführen durften, befindet sich die Partei zwar nach Umfragen der „Forschungsgruppe Wahlen“ bei noch 27 Prozent (20.11.2015). Dennoch wird es die Partei – sofern die Prognosen sich nicht ändern – diesmal nicht mehr schaffen, den Ministerpräsidenten zu stellen. Die CDU wäre im Süden mit 37 Prozent nicht einzuholen, auch nicht von der SPD, die gerade Mal auf 18 Prozent der Stimmen erhielte. Die liberale FDP käme demnach auf fünf Prozent. Außerdem wäre nach derzeitigem Stand auch die AfD mit sechs Prozent im Landtag. Cem Özdemir liegt Baden-Württemberg besonders am Herzen. Der selbst ernannte „anatolische Schwabe“ möchte als Parteichef Stärke und Macht demonstrieren. Leider schießt er diesmal mit seinem Vorschlag die islamischen Religionsgemeinschaften rechtlich auszugrenzen am Ziel vorbei. Das Kalkül der Grünen, bei Rechtskonservativen und islamkritischen Wählern zu punkten, könnte verfehlt wenn nicht gar kontraproduktiv sein.
Blick in die Zukunft
Wie hatte es 2006 der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble auf den Punkt gebracht? „Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas, er ist Teil unserer Gegenwart, und er ist Teil unserer Zukunft“. Wenn es demnach geht, brechen die Grünen-Spitzenpolitiker mit ihren Vorschlägen nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Gegenwart und verbauen dazu noch die Zukunft. Eigentlich sehr schade für eine einst so innovative und tolerante Partei. Was ist nur aus ihr geworden?