Es ist noch gar nicht so lange her, da sind viele Menschen ermordet worden. Durch Attentäter, zu deren Anstiftung sich der IS bekannt hat. Die ganze Welt trauerte mit Frankreich. Jedes noch so winzige Detail über den Anschlag wurde berichtet und auf Facebook wechselten die Titelbilder von Justin Bieber und Selena Gomez zu Frankreichs Nationalflagge. Sogar zwei Deutsche sollen unter den Opfern identifiziert worden sein! Was nun?
Meine Mitschüler Juliane und Leon sagen, dass man darüber trauern soll, aber alles daran setzen muss, dass die Willkommenskultur nicht zerbricht. Man dürfe dem IS nicht in die Hände spielen. Aber das sind ja »nur Jugendliche«, die nicht viel Ahnung haben. Wenn es nach dem neuen polnischen Außenminister geht, soll eine Flüchtlingsarmee gebildet werden. Er ist der Auffassung, dass sei besser, als sie „hier unter den Linden Kaffee trinken zu lassen“. Zwar kommt man nicht drum herum, nicht nur mit Frankreich sondern auch um Polen zu trauern, doch so lächerlich diese Forderung auch scheinen mag – mit seiner Stellung zur Flüchtlingspolitik ist er nicht alleine. Die Grenzen sind zu. Die CSU spricht von einer „neuen Ära“. Frankreich verstärkt Luftschläge auf den IS und Hollande erklärt heroisch, der IS bekäme es mit einem „entschlossenen und furchtlosen Frankreich“ zu tun. Dass mit Waffengewalt und erst recht bloß mit Luftschlägen nichts zu erreichen ist, weiß der Westen, wissen wir nur allzu gut. Einmal fragte ich einen Jugendoffizier der Bundeswehr bei seinem Vortrag über die Bundeswehr, ob er mir denn einen bewaffneten Einsatz nennen könne, der erfolgreich war – das erste Mal während seines gesamten Vortrages an unserer Schule war er ehrlich und verneinte.
Was soll Europa tun?
Also – was soll Europa tun? Was soll Deutschland tun? Montags wieder auf die Straßen gehen, die Grenzkontrollen wieder einführen und Frankreich Unterstützung zuzusichern, wie die Kanzlerin es getan hat? Oder sollen die Franzosen ihr Kreuzchen bei Marine Le Pens rechter Partei setzen? Acht Islamische Verbände haben sich dazu geäußert und erklärt, dass sie unter anderem „noch enger zusammenrücken werden, um die europäischen Werte“ zu schützen. Hier kommen wir zu dem entscheidenden Punkt: Europäische Werte. In letzter Zeit werden diese Wörter öfter benutzt. Am selben Tag der schrecklichen Anschläge fand in der Kongresshalle von Gießen der Bundeskongress der Kurdischen Gemeinde Deutschlands statt. Darin dankte man Deutschland für die offizielle Anerkennung und sicherte zu, westliche Werte zu verteidigen! Hinter den zwei Wörtern verbirgt sich eine ganze Menge. Spricht man nun von den Menschenrechten und Demokratie, von (eigentlich) universellen Rechten wie Pressefreiheit und Freiheit, deren Ideen ihren Ursprung in der Antike finden, oder von Zäunen und staatlich organisierten Attacken auf Flüchtlinge in Form von Wasserwerfern und Tränengas, wie die ungarische Regierung es macht. Es werden Luftschläge auf IS Stellungen geflogen, aber gleichzeitig an deren Unterstützer Saudi Arabien deutsche Waffen geliefert. Naja, Saudi Arabien bekennt sich ja öffentlich nicht direkt zum IS. Auch wenn sie den IS mit Geld voll pumpen.
Das Denken an die Opfer
Fangen wir doch mit einer Schweigeminute für die Opfer an. Vor einigen Monaten Charlie Hebdo, und nun das. In Syrien gehören diese Anschläge zum Alltag, aber das ist eben in Syrien. „Wieso?“, fragt ein Mädchen aus der Jahrgangsstufe 13: „Warum keine Schweigeminute für die Opfern des syrischen Bürgerkrieges?“. Ganz einfach, Syrien liegt uns natürlich am Herzen, aber es ist eben Damaskus und nicht Paris. Wäre man allzu zynisch, würde man den europäischen Werten unterstellen, dass ein französisches Menschenleben mehr wiegt als ein, wenn nicht sogar tausenden von syrischen Leben.
Aber was denn nun tun? Weiterhin ein Auge auf Pierre Vogel und seine Mitstreiter haben, Khorchide und Kermani nur am Rand der Berichterstattung auftauchen lassen. Die bewegende Rede Kermanis bei der Friedenspreis Vergabe in der Frankfurter Pauluskirche kennen nicht viele. Auch die Tatsache, dass die meisten Opfer des IS Muslime sind, wird gerne unter den Tisch gekehrt. Schweigeminute für Frankreich. Aber keine für den Irak, als beim diesjährigen Zuckerfest mehr als hundert Muslime durch einen Selbstmordattentäter getötet wurden. Die Liste ist unendlich lang. Für den IS ist nicht Jürgen und Lukas der größte Feind, auf der Todesliste des IS stehen weit höher Ali und Hamid, welche sich ihm nicht anschließen. Einen Kermani oder Khorchide würden sie lieber in die Hände kriegen als einen verwirrten Hamed Abdel-Samad. Auch wenn auf youtube Videos zu finden sind, in denen er Parallelen zwischen der faschistischen Ideologie Adolf Hitlers und den Lehren des islamischen Propheten Mohammeds zieht. Aber es ist nicht seine Schuld, vielmehr ist es unsere Schuld, denn wir geben solch bemitleidenswerten Figuren eine Bühne und befördern sie, ich nenne sie mal Literatur, wie „Mohammed – eine Abrechnung“ in unseren Bestsellerlisten. Dann wundern wir uns, wieso der IS mit seiner „Kuschel-Strategie“ Jugendliche auf seine Seite zieht. Seine Gebiete werden von Banditen regiert. Würden Militäreinsätze gegen „Hit-and-Run“ Kämpfer etwas nützen, dann würde es die PKK in der Türkei nicht mehr geben. Banditen bauen auf Zerstörung, die damit verbundene Angst und resultierenden Maßnahmen. Er will das Europäische Staaten alles dicht machen und in den Krieg ziehen, wieso soll Omar sich dem IS anschließen, wenn er hier willkommen ist? Aber nein, sobald Flüchtlinge ankommen, wird dafür gesorgt, dass sie die „westlichen Werte“ kennen lernen und nicht darum, sie erst einmal ankommen zu lassen. Es ist, wie wenn man sich ein neues Haustier zulegt. Erst einmal muss der Hund stubenrein gemacht werden. Aber unsere Hunde bringen wir zum Psychologen, während mehr als hundert Flüchtlinge sich im günstigsten Fall immerhin einen teilen dürfen.
Die eigene Verantwortung
Aber das soll keinesfalls die islamische Welt freisprechen! Es stimmt, der Islam hat ein hässliches Gesicht angenommen. Doch daran ist nicht die Religion schuld, sondern die Menschen, welche sie leben. Nicht eine Religion macht Menschen, sondern die Menschen die Religion. Es stimmt, der islamische Prophet Mohammed war für Mahatma Gandhi eine Leitfigur. Es stimmt, vor einigen Jahrhunderten noch galt die islamische Welt als ein Zufluchtsort für europäische Wissenschaftler und Denker. Es stimmt aber leider auch, dass davon heute nicht mehr viel übrig ist. Nur als Schuldigen suchen wir immer die falschen – im Westen ist es der Islam selbst und im Osten der böse Westen. Beide vergessen nur: Nicht der Islam hat sich verändert. Es sind die Muslime, die sich verändert haben. Der Islam sagt immer noch, dass ein verlorenes Menschenleben dem Verlust der ganzen Welt gleichkommt. Aber seien wir ehrlich – für uns ist es doch viel einfacher, den Islam dafür verantwortlich zu machen und für den Osten ist es einfacher, das böse Amerika als Schuldigen anzuprangern. Es ist einfacher zu sagen, dass der Islam so ist, statt historisch nachzusehen, wann der Wahhabismus entstand – oder was das überhaupt ist. Die versprochenen 70 Jungfrauen kennt jeder, mit Ausnahme des Korans, aber den Wahhabismus niemand.
Zurück zu den europäischen Werten
Naja, zurück zur Politik – die europäischen Werte scheinen doch mehr auf den Nah-Ost abgewälzt zu sein, als wir vielleicht annehmen. Unsere Kanzlerin macht für Erdogan Wahlkampf, auch wenn seine brutale Vorgehensweise gegen Regimegegner bekannt ist, so braucht man ihn dennoch, um die Flüchtlingswelle aufzuhalten. Früher hat man im Nahen Osten Diktatoren gehabt und hat einen Gaddafi dafür bezahlt, dass er mögliche Flüchtlinge in der Wüste umlegt, damit wir unsere Ruhe haben. Jetzt sind sie weg, jetzt brauchen wir eben Erdogan. Und was tut die islamische Welt?
In der Vergangenheit konnten Kämpfer des IS sich in der Türkei behandeln lassen. Heute nutzt man sie als Vorwand, um die Kurden zu bombardieren, während wir die Kurden als Söldner nutzen. Vor einem guten Jahrzehnt haben die USA den Kurden Unterstützung geboten, wenn diese gegen den damaligen irakischen Diktator Saddam Hussain kämpfen – die USA zog ab, Saddam Hussein rächte sich mit einem Giftgasbombenangriff in der kurdischen Stadt Halepce. Millionen von Menschen starben. Heute nutzen wir die Kurden als Söldner, obwohl wir wissen, dass wir niemals einen Bruch mit der Türkei riskieren. Genauso wenig wie mit Russland. Ja, sie sind in der Ukraine einmarschiert, ja, sie unterstützen das grausame Assad-Regime, welches Millionen von Menschenleben auf dem Gewissen hat – aber wir brauchen sie eben. Für unsere Geschäfte, und für den Krieg. Denn der Tot klopft an unserer Haustür und fordert nun auch mal europäische Leben.
Realpolitik und eigene Interessen dominieren
Hat Putin sich etwa geändert oder für die vielen Toten der Ukraine entschuldigt? Nein, aber wir brauchen ihn. Das politische Konzept des Westens eben: Realpolitik. Eigentlich waren wir dabei mit Putin unsere Kräfte zu messen, auch wenn dafür Ukrainer bluten mussten. Schon im Kalten Krieg war das so – um die Sowjets zu schwächen, wurden die Taliban, damals noch Guerillakämpfer, von der US-Regierung unterstützt. Vietnam musste brennen. Aber das war unwichtig. Die eigenen Interessen hatten Vorrang. Heute liegt es in unserem Sinne, mit Putin gemeinsame Sache zu machen, weil wir immer noch glauben, mit Waffen könne man andere Waffen zum Schweigen bringen. Weder die USA, noch Deutschland hatte damit je Erfolg – aber das ist egal, auf Kosten anderer können wir es ja immerhin noch mal versuchen.
Das ist Realpolitik.
Nach innen Werte predigen, Menschenrechte und Pressefreiheit als die höchste Priorität preisen und immer dafür sorgen, dass jeder sich kaufen kann, was er will. Billigen Kaffee, für den ein afrikanischer Bauer aus dem Markt vertrieben und verhungern muss, so viel Billig-Kleidung aus Bangladesch und noch Vieles mehr bereitstellen– für europäische Bürger eben.. Das ist Realpolitik.
Das ist unser politisches Konzept. Zwei Anschläge und die hart erkämpften Bürgerrechte sind dahin. Was bedeutet vollkommene Handlungsfreiheit für die Geheimdienste in Frankreich – Willkür. Jeden festnehmen, den man verdächtigt. Ohne richterlichen Beschluss, Häuser durchsuchen und jegliche Menschenrechte mit der Aufschrift „Terrorgefahr“ missachten – Richtig, so sieht es in Frankreich aus, dem Mutterland der Menschenrechte.
Also, weiterhin Waffen an den großen Bruder des IS, Saudi Arabien liefern, gleichzeitig die Kurden unterstützen und für ihren Verfechter Erdogan Wahlkampf machen, weiterhin Schweigeminuten für Francois und durch die Medien der Angst in der Bevölkerung vor Ali schüren, welcher seit dreißig Jahren hier lebt, nicht entgegenwirken und weiterhin den militärischen Einsatz im Nah Ost verstärken und mit Putin paktieren – Bahn frei, hier kommen die westlichen Werte!