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Wenn wieder wie jedes Jahr im April die Armenierfrage auf der politischen Agenda steht, steigt das diplomatische Thermometer zwischen der Türkei und Teilen der westlichen Staatengemeinschaft in ungeahnte Höhen. Dieses Jahr jährt sich die Tragödie zum hundersten Mal. Daher ist davon auszugehen, dass die Debatte um die schrecklichen Ereignisse während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich besonders heftig ausfallen wird.
Türkei fordert unabhängige Historikerkomission
Das Europäische Parlament hat die Türkei aufgefordert, die Tragödie an den Armeniern im Osmanischen Reich als Völkermord anzuerkennen. Der 100. Jahrestag der damaligen Geschehnisse sei eine wichtige Gelegenheit, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, hieß es in einer Verlautbarung aus Brüssel. Die Abgeordneten forderten, dass die Türkei ungehinderten Zugang zu allen Archiven ermöglichen solle. Ziel müsse eine wirkliche Aussöhnung zwischen dem türkischen und dem armenischen Volk sein. Ob dies jedoch ernsthaft bezweckt wird, bezweifeln Experten. Denn die Türkei seinerseits bietet seit Jahren an, seine Archive einer unabhängigen Historikerkommission uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen. Aus Mangel an Kooperationspartnern konnte dies bis jetzt nicht in die Tat umgesetzt werden. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte die Ansicht des EU-Parlaments deshalb schon vor der Erklärung als belanglos abgetan. Erdoğan sagte: „Die Entscheidung geht bei uns zum einen Ohr rein und zum anderen wieder heraus.“
Papst Franziskus bringt Stein ins Rollen
Die Debatte ins Rollen brachte dieses Jahr kein geringerer als der Papst höchstpersönlich. Das Oberhaupt der Katholiken bezeichnete die katastrophalen Ereignisse im damaligen Osmanischen Reich als sogenannten „ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“.
Papst verkennt die Geschichte
Christian Bommarius vom „Kölner Stadt-Anzeiger“ schreibt hierzu: „Der Papst hat die Wahrheit gesagt, und dennoch ist ihm in einem wichtigen Punkt zu widersprechen. Seine Behauptung, der Genozid an den Armeniern sei der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts gewesen, ist falsch. Auch wenn die Mehrheit der deutschen Politiker davon nichts wissen will, war die weitgehende Vernichtung der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika [Namibia] zwischen 1904 und 1908 nach fast einhelliger Ansicht der Wissenschaft als Völkermord einzustufen.“
Die Vergangenheit der Kolonialmächte ist oft mit Blut verschmiert
Und weiter: „Die Auslöschung von rund zehn Millionen Afrikanern in der Kolonie Kongo des belgischen Königs Leopold II. hatte bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts begonnen. Der Genozid endete erst in den Jahren nach 1908, nachdem der König zur Abgabe der Kolonie gezwungen worden war.
Wer vom sogenannten Völkermord an den Armeniern reden wolle, dürfe „von den genozidalen Kolonialverbrechen im 20. Jahrhundert nicht schweigen“. Was für die türkische Regierung gelte, so Bommarius, das gelte ebenfalls für die Bundesregierung und die belgische Regierung, „die bis heute in den Palästen sitzt, die in Brüssel mit dem Blut und dem Leben der Afrikaner errichtet wurden, aber zu den Verbrechen schweigt.“
Oberkommando der türkischen Truppen lag bei der deutschen Militärmission
Ferner weist Bommarius auf ein nicht unwichtiges Detail hin. Er schreibt: „Aber denkbar ist natürlich auch, dass Deutschland nicht an seine Beteiligung am Völkermord an den Armeniern erinnert werden will. Die türkischen Truppen wurden damals von deutschen Offizieren kommandiert, und Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg hatte die Losung ausgegeben: „Unser Ziel ist es, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber die Armenier zugrunde gehen oder nicht.“
Der Korrespondent des „Spiegel“ in Istanbul, Hasnain Kazim, zitiert in einem aktuellen Online-Artikel Passagen aus einem kürzlich erschienenen Buch („Beihilfe zum Völkermord“) des Journalisten Jürgen Gottschlich. Was der Spiegel-Autor dort über die Briefwechsel des deutschen Marineattachés in Istanbul, Hans Humann und den deutschen Chef der türkischen Flotte, Admiral Wilhelm Souchon erwähnt, ist schockierend. Was diese Militärdiplomaten über die Armenier über die Lippen bringen, ist kaum noch an rassistischer Geschmacklosigkeit und Menschenverachtung zu überbieten.
Kirchen in Deutschland gedenken am 23. April der christlichen Opfer
Nun wollen auch die Spitzen der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland, die Evangelische Kirche (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz, am 23. April in Berlin in einem ökumenischen Gottesdienst an den so genannten „Völkermord an den Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen“ erinnern. Bundespräsident Joachim Gauck werde nach Angaben seines Sprechers eine kurze Rede bei der Veranstaltung halten.
Alle Opfer, gleich welcher Religion haben Recht auf Anteilnahme
Die Frage, wieso sowohl der Papst als auch die beiden großen christlichen Konfessionsleitungen in Deutschland nur an das Leid der Christen gedenken und beispielsweise die ethnischen Säuberungen, was nicht wenige Menschen als Völkermord bezeichnen, in den 1990er Jahren mitten in Europa an muslimischen Bosniaken in Srebrenica völlig ausblenden, sei dahingestellt.
Der Mensch ist wertvoll, weil er ein Mensch ist
Sind nichtchristliche Opfer vielleicht weniger wertvoll? Was ist mit den Opfern in Afrika (Ruanda, Kongo, Somalia usw.)? Wieso gedenkt niemand so ausgiebig wie es jetzt der Fall ist, den Opfern in Syrien, Sri Lanka, Irak, Bosnien-Herzegowina, Afghanistan oder Gaza, Tel-Aviv-Jafo, Xinjiang und Myanmar-Arakan? Der Präsident der Handelskammer von Ankara, Sinan Aygün, bezeichnet die Tragödien in Teilen dieser Orte als „postmodernen Völkermord“ und fragt, wieso kaum jemand wirksam die Stimme erhebe, wenn im Irak zwischen 665.000 bis 1.000.000 Menschen getötet werden.
Eine Art „Kreuzzugsmentalität“ führt hier nicht weiter. Menschen sollten nicht nach Religionen oder anderen Gesichtspunkten klassifiziert werden. Menschen verdienen eine Achtung allein deshalb, weil sie Menschen sind. Aus diesem Grunde verdienen sowohl Armenier als auch Bosnier, Tutsis, Rohingya, Uiguren, Yeziden, Tamilen, Thraker und sonstige Menschen, die Opfer von Gewalt, Bürgerkrieg oder grausame Verbrechen geworden sind, eine aufrichtige Anteilnahme.
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