Jubiläen verweisen nicht nur auf das, was war. Wenn wir sie begehen, dann hat das meistens etwas mit unserer Gegenwart und Zukunft zu tun. Ein ins Wasser geworfener Stein sendet in konzentrischen Kreisen Wellen aus, die zwar nach und verebben, aber weit vom Ursprung entfernt noch zu sehen sind – je nach der Größe des eingeschlagenen Objekts. Das 20. Jahrhundert ist ein Zeitraum, in dem so viele Meteore in die Matrix der Geschichte gestürzt sind, dass wir heute in einem Tsunami leben müssten. Jedenfalls dann, wenn wir sensibel genug wären, um die Schreie, die Angst, das Zittern all jener zu hören und zu spüren, denen Hass, Ideologie und Niedertracht nachgestellt haben. Papst Franziskus hat erst jüngst an drei große Tragödien erinnert, die die brutalen Schlagzeilen dieses merkwürdigen Jahrhunderts bestimmten. Das erste große Ereignis habe sich vor 100 Jahren genau eingestellt, als bei den Massakern und Todesmärschen der Armenier bis 1917 bis zu 1,5 Millionen Menschen ums Leben gekommen sein sollen. Schließlich schlugen später die Vernichtungswerke von Nationalsozialismus und Stalinismus in die Grundfesten von Nationen, die man für kultiviert gehalten hatte.
Die Chance des Jubiläums (Armenierfrage)
Jedes Jubiläum bietet eine Chance der Besinnung und der Achtung vor den großen Leistungen der Menschheit, aber eben auch vor dem unermesslichen Leid, das immer ein Leid jedes Einzelnen ist. Ob sich nun die Zahlen am Ende auf perverse zwei, vier oder sechs Millionen addieren. Friedrich Nietzsche wusste, dass der Mensch ein riskiertes Wesen ist und so kann, wie bei der Tat selbst, das Erinnern an diese Dinge gelingen oder misslingen. Bei den ersten hundert Jahren, die auf das Martyrium der Armenier verweisen, sieht es bereits düster aus. Wenn man sich etwas wünschen möchte im Kontext der aktuellen Diskussion, dann, dass das Erinnern, die Geschichte aus den aktuellen Händeln der Politik, der Ränkespiele im Jetzt und Heute herausgehalten werden möge. Dass man Tragödien wie Tragödien behandeln würde und nicht wie eine Dokusoap im Vorabendprogramm. Wenn der Papst als Seelsorger sich der Gepeinigten annimmt, so ist das seine geistliche Pflicht. Wenn der Historiker seine unangenehme Pflicht tut, das verworrene Knäuel menschlicher Niederträchtigkeit zu entwirren, so muss er das ebenfalls tun und tun können.
Keine Geschichte mit der Politik
All diejenigen, die ihr billiges Geschäft der Tagespolitik auf den Rücken der Opfer austragen möchten, die möchte man flehentlich bitten, zu schweigen. Es geht heute nicht darum, wen man dafür verantwortlich machen soll. Ist die Türkei schuld, weil aufwallender Nationalismus zu Anfang des Jahrhunderts die Menschen enthemmt hat, oder Deutschland, das im Ersten Weltkrieg an der Seite des Bündnispartners Öl ins Feuer gegossen hat? Haben die Armenier das Recht, die Deutschen für die nächsten 100 Jahre zu hassen, wie es in einem Beitrag des Deutsch-Türkischen-Journals stand? Oder können Islam-Hasser zurecht ihr „Ceterum censeo“ zum Besten geben? Bitte nicht. Diese Tragödien geben höchstens Anlass zur Demut angesichts der Verworrenheit des menschlichen Wesens. Da leben Menschen friedlich mit- und nebeneinander. Franz-Olivier Gisbert beschreibt das in seinem aktuellen Roman „Ein Diktator zum Dessert“ auf drastische Weise. Und dann schlägt der blinde Hass seine
Wunden. Der lesenswerte Roman beginnt in den Tagen, als die Protagonistin, eine Armenierin, die gesamte Familie nebst dem muslimischen Nachbarjungen verliert, den sie unbedingt hätte heiraten wollen. Und er spannt den Bogen über die Gräuel der Nazizeit und die Auswüchse des Maoismus.
Trotz allem glauben
Rose, die Hauptperson, muss sehen, wie man ihren Vater per Genickschuss tötet und sie erlebt dann unaufhörlich die andere Seite des Menschen, die Fratze. „Warum musste man ein ganzes Volk auslöschen, das für niemanden eine Bedrohung war?“, lässt der Autor sein Alter Ego Elie Wiesel fragen. Der erwidert, man müsse an den Menschen glauben, dem Menschen zum Trotz. „Er hat völlig Recht, und ich verneige mich vor ihm. Selbst wenn uns die Geschichte vom Gegenteil überzeugen will, man muss trotz der Vergangenheit an die Zukunft glauben und trotz seiner gelegentlichen Abwesenheit an Gott. Sonst wäre das Leben nicht lebenswert“, resümiert Gisbert. Deshalb wären zu den Jubiläen das Gebet und die Anstrengung, die Kraft der Liebe im eigenen Leben zu verwirklichen die richtigen Antworten auf die großen und kleinen Genozide, die schon vor 1915 mit den kolonialen Schweinereien der Europäer angefangen haben und die sich bis heute wie ein roter, weil blutiger Faden durch unser Leben ziehen.
Unsere Verantwortung
Ob es sich nun um die finanzierten Kriege in Afrika oder anderswo auf der Welt handelt, an denen immer die Gleichen verdienen; ob es die gierigen und menschenverachtenden Schleuser sind, die an der Konkursmasse dieser Kriege ihren Profit schlagen oder jene, die die Flüchtenden in Europa mit Feuer und Hass empfangen: Jubiläen sind nicht nur Vergangenheit. Sie verweisen auf das Heute, auf unsere eigene Verantwortung. Und die sollte man bei sich selbst und nicht bei anderen suchen. Wenn wir jetzt an die Armenier denken, dann sollten wir an jedes einzelne Schicksal denken, dem es egal ist, ob es in den Oberbegriff des Genozids einzuordnen ist, ob es vor ihm und nach ihm größere oder kleinere Tragödien gab. Wenn sich am 8. Mai das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt, sind Tränen angebracht über das, was Menschen anderen Menschen antun können. Bestimmt aber keine politischen Debatten, wüste Beschimpfungen an Stammtischen oder in den Diskussionsforen des Internets. Und das wird mit jedem Ereignis so gehen, an das wir uns noch werden erinnern müssen.
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