Bildquelle: „Western wall jerusalem night“ von Wayne McLean ( jgritz) – Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY 2.0 über Wikimedia Commons.
Reisen bildet, sagt man. Im Mittelalter schickten die Adligen vornehmlich ihre Söhne deshalb in die europäischen Länder. Ein Studium in Prag oder Paris war nichts Ungewöhnliches, bevor man wieder an den Hof nach Wolfenbüttel oder Würzburg zurückkehrte. In der Neuzeit, spätestens mit der Aufklärung, war das Entdecken fremder Kulturen und Länder nicht mehr nur vom Geburtsvorrecht abhängig – wenn man mal davon absieht, dass natürlich auch heute das nötige Kleingeld des Elternhauses in der Regel entscheidet, ob man über seine Stadtgrenze hinauskommt. Die Romantiker entdeckten die antiken Stätten unseres Kontinents. Der „Wandervogel“ des frühen Zwanzigsten Jahrhunderts durchstreifte die Länder per pedes. Und nach dem letzten Weltkrieg entwickelte sich mit zunehmendem Wohlstand Tourismus für die Masse. Oft gilt da auch der Grundsatz der Bildung nicht mehr. Aber immerhin: Andere Länder erweitern irgendwie doch den Horizont.
Oder anders herum: In der Ferne wird man auf sich selbst zurückgeworfen. Das Fremde erfahren hilft, das Eigene zu erkennen. Nicht immer bringt man’s wirklich weit. Reisefreiheit ist theoretisch, wenn die Mittel nicht da sind. Der Ferne Osten wird für den einen oder anderen unerreichbar sein. Welch gute Fügung also, dass mit der Lust am Reisen stets auch die Lust am Schreiben einherging. Literatur über fremde Länder ist weitgehend barrierefrei. Ein Reisebuch ist vor kurzem, im Dezember 2014, erschienen, und liest sich fast wie eine Parabel auf deutsche bzw. europäische Verhältnisse. Es geht um die Stadt, die gleich von vier Weltreligionen beansprucht wird: Jerusalem. Wolfgang Büscher erlebte einen „Frühling in Jerusalem“ und lässt uns Daheimgebliebene an seinen Erfahrungen teilhaben. Zu allererst das wichtigste an seinem Buch: Es ist wunderbar und fesselnd geschrieben. Gleich von der ersten Zeile an, wenn der Autor mit dem kleinen Bustaxi in die Heilige Stadt einfährt, ist man gefangen.
Jerusalem als Brennspiegel unserer Wirklichkeit
Da sitzen drei Amerikaner, wohl orthodoxer Lebensart, drei junge russische Nonnen, ein englisches Ehepaar und „ein schläfenlockiger junger Schlacks im glänzenden schwarzen Kaftan“. Diese Besatzung stimmt darauf ein, was Büscher und mithin den Leser auf dieser Frühlingsfahrt begegnet. Jerusalem bündelt gleichsam als Brennspiegel all jene Probleme und Chancen, die das Aufeinandertreffen der großen Religionen mit sich bringt. Dann sind die Religionen – das Griechisch-Orthodoxe, das westliche Christentum, das Judentum und der Islam – mit ihren Menschen, ihren Schicksalen und ihrer Geschichte und Zukunft. Dann die Grabeskirche, der Brennspiegel im Brennspiegel. Damit sich alle verschiedenen Interessen ausglichen, so erfährt der Leser, habe ein Sultan in früheren Zeiten verfügt, dass niemand etwas am Status quo des Gotteshauses ändern dürfe, damit es keinen Streit gebe. Die Nutzung ist streng abgesprochen und organisiert.
Wenn Wolfgang Büscher die Geschichten der Menschen erzählt, die ihm begegneten, dann gewinnt Wehmut Oberhand. Es wird von den „wilden 20er Jahren“ berichtet, in denen die Stadt weltoffen war, die Glaubensrichtungen einander nicht feindlich gegenüberstanden. Was für eine Ironie der Geschichte. Das wachsende Nationalbewusstsein, das zur Emanzipation gegenüber traditionellen Machtstrukturen, Aufklärung und Demokratisierung geführt hat, hat doch die Menschen auf der anderen Seite gegeneinander aufgebracht. Wolfgang Büscher bietet keine Lösungen an. Er beschönigt nichts an der Problematik des Anderseins. Aber er sucht auch keine Schuldigen und regt gerade deshalb zum Denken an.
Jerusalemer Ignoranz
An der Ecke Via Dolorosa und Al Wad kulminierte nach diesen Beobachtungen die Problematik. „Hier traf das Unvereinbare aufeinander, durchstieß einander, entwand sich wieder. Arabien traf auf Judäa. Tausende Moslems, unterwegs zum Haram asch-Scharif, den die Juden Tempelberg nennen. Tausende Juden, unterwegs zur Klagemauer, die nichts anderes ist als die westliche Stützmauer des Plateaus, auf dem die Moslems in diesem Moment ihr Freitagsgebet verrichteten. Und mittendrin Christen auf dem Passionsweg ihres Herrn. Wo ich stand, lag die kurze, enge Strecke, durch die alle drei Ströme hindurchmußten.“ Und hierin liege das Geheimnis des Zusammenlebens. Die Fähigkeit nämlich, aneinander vorbeigehen zu können, „die schöne Jerusalemer Ignoranz“: „Während Amerika und Europa der Utopie der Verschmelzung nachhingen, bewies sie vor meinen Augen ihre friedensstiftende Macht. Ein Frieden freilich, so sicher wie ein randvolles Glas Milch in der Hand eines dreijährigen Kindes. Das Glas konnte jederzeit springen, der gespannte Frieden jederzeit detonieren.“
Wie sich das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen in Europa entwickeln wird? Wer weiß das schon. Klar wird einem nach dem Lesen des Buches, dass es keine politische oder ideologische Entscheidung sein kann, die das bestimmt. Es sind die einzelnen Lebenswege der Menschen, ihr Zusammentreffen und Zusammenleben, die das bunte Bild menschliche Vielfalt prägen. Mit allen Anlagen zum Gelingen und zum Scheitern. Man lernt die skurrilen Charaktere kennen, denen Wolfgang Büscher begegnet, und wünscht sich, dass solche auch im eigenen Umfeld stärker zur Kenntnis genommen werden würden. Vielleicht kann und sollte man – wenigstens gelegentlich – nur so die Welt betrachten. Schauend und verstehend. Das wird dann zwar nicht in einem klaren Programm und griffigen Formeln umzumünzen sein. Aber die sind für das Leben sowieso unbrauchbar.