Während  der Westen weitgehend ratlos darüber war, welche Position man gegenüber den jüngsten Irrungen und Wirrungen rund um Islam und Macht  im Mittleren Osten einnehmen sollte, hatte er zuvor über die Jahre  hinweg seine Einschätzungen unmissverständlich deutlich gemacht: Es sei ein Anlass zur Sorge, wenn islamische Einheiten Macht übernehmen. Ebenso sei die Islamisierung einer mächtigen Einheit ein Anlass zur Sorge.

Im  Falle der Türkei dominierte die letztgenannte Leseart die Berichterstattung von Journalisten und die Darstellung von Experten, die  mittels unheimlicher Andeutungen ihrer Sorge über den politischen Weg  der Türkei generell und den Einfluss der Gülen-Bewegung im Besonderen  Ausdruck verleihen.

Es wird angesichts der Regierung Recep Tayyip Erdogans das Gespenst einer “Machtübernahme” beschworen, im  Rahmen derer islamische Kräfte die Kontrolle über zuvor säkulare  staatliche Institutionen übernommen hätten. Die Schilderung der  Islamisierung der Türkei als Akt der Aggression und Radikalisierung  wurde nicht zuletzt durch die alarmistischen Darstellungen von Bernard  Lewis, einem der einflussreichsten Historikers mit Themenschwerpunkt  „Mittlerer Osten“, verstärkt, der die Entwicklungen in der Türkei als  „Re-Islamisierung“ beschreibt, die eine Rückkehr in dunkle Zeiten  befürchten ließe und eine Herrschaftsform repräsentiere, angesichts derer man nicht einmal eine künftige Iranisierung ausschließen könnte.

In westlichen Augen erscheint die gesamte Entwicklung wie ein  rätselhaftes Paradoxon, insbesondere im Lichte des wirtschaftlichen  Wachstums der Türkei: Das Land erholt sich fiskalisch, während seine  säkulare Identität zurücktritt. Wie in aller Welt kann ein Mehr an  Wohlstand dazu führen, dass ein Land weniger westlich wird? Kein Wunder,  dass der Westen verstört ist.

Mit Hegel die Türkei verstehen 

An  dieser Stelle sei empfohlen, die kognitive Dissonanz des Westens in  Bezug auf die Türkei aufzulösen, indem man sich eines beliebten  westlichen Interpretationsansatzes bedient: Der Hegelschen Dialektik.  Diese philosophische Technik wurde von europäischen Denkern entworfen  und entwickelt, um scheinbare Widersprüchlichkeiten ähnlich jener, wie  sie die Spannung zwischen Islam und Säkularismus in der modernen Türkei  darstellt, zu überdenken.

In diesem gedanklichen Rahmen stellt  der Islam in seiner ursprünglichen Form während des Ottomanischen Zeitalters die These dar, die durch die Antithese in Form des  Säkularismus negiert wird, was dann in weiterer Folge zur Unterordnung  und Assimilation dieser Antithese in einer Synthese führt: Nämlich einem  Islam, der – nachdem er sich im Spiegel der Säkularisierung betrachten  konnte – selbsthinterfragend und selbstbewusst geworden ist und in der  Folge in größerem Umfang mit dem Westen kompatibel ist. Mit anderen  Worten: Die Islamisierung der Türkei ist keine regressive, sondern eine  progressive, die das Land – wie die Vernunft dies auch macht – durch die  Integration von Gegensätzlichkeiten in eine umfassendere Einheit  umwandelt.

Die dialektische Vorwärtsbewegung in der Türkei wird  vor allem durch die Gülen-Bewegung vorangetrieben, die in einem  Bottom-Up-Prozess der anatolischen Bourgeoisie in der Türkei entsprang und dabei Muslime umfasste, die sich mit ihrer sozialen Klasse im  westlichen Sinne identifizierten.

Das sind Muslime, die im Lichte westlicher Sensibilitäten eine  türkische Zivilgesellschaft fördern und optimieren. So werden  beispielsweise Kopftücher, die zuvor im antithetischen Zeitalter des  Säkularismus in der Türkei verboten waren, jetzt niemandem aufgezwungen,  aber sie sind schlicht und einfach im öffentlichen Raum erlaubt. Mit anderen Worten: Die dringlichsten muslimischen Anliegen bezüglich der  Kernelemente innerhalb der türkischen Gesellschaft werden nicht länger verweigert, während zur gleichen Zeit westliche verfassungsmäßige  Freiheiten respektiert werden.

Der Politikwissenschaftler Hakan  Yavuz, dessen in Kürze erscheinendes, faszinierendes Buch „Hin zu einer  islamischen Aufklärung: Die Gülen-Bewegung“ ich die Ehre hatte,  voranzukündigen, vertritt die Auffassung, diese Bewegung würde einen  genuin protestantischen Islam konstituieren. Das bedeutet, der  islamische Kern der Bewegung verschränkt sich mit einer Internalisierung  westlicher weberscher und calvinistischer Weltbilder, die sich  eingehend mit der Wechselbeziehung zwischen religiösen Prinzipien und  ökonomischen Anwendungen befasst und im Geiste des Kapitalismus daran  glaubt, dass sozioökonomische Prosperität einer der bestmöglichen Wege  ist, um Gottes Wohlgefallen zu erlangen und zu bedenken.

Das ist  auch der Hauptaspekt vieler anderer Wege, durch welche die Bewegung  einen bewussten Dialog mit westlicher Denk- und Glaubensweise ausdrückt.  Hakan Yavuz, ein türkischer Wissenschaftler in den USA, bringt die Bewegung  unter das Mikroskop akademischer Forschung und identifiziert sowohl sein  Versprechen wie auch die Stolpersteine, die in seinem Weg liegen. Seine  ernsthafte Analyse der Feinheiten der Bewegung hält keine Vorhersagen  über dessen Zukunft bereit, aber arbeitet eine unmissverständliche  Botschaft heraus, die jedem Härtetest standhält: Die Gülen-Bewegung ist  selbst immer noch in Bewegung.

Der Weg der Gülen-Bewegung mag nicht perfekt sein – alte Widersprüche werden im Rahmen des menschlichen  Strebens nach Verbesserung immer wieder durch neue ersetzt – aber  nichtsdestotrotz ist die Straße gepflastert mit dem Bekenntnis zum  Fortschritt. Die Innovationen der Bewegung im Bereich der Lehrtätigkeit  müssen beständig Hand in Hand gehen mit der Offenheit des Lernens,  selbst von seinen offensichtlichen Antagonisten innerhalb der Türkei.

Insbesondere  haben unschöne Angelegenheiten im Zusammenhang mit Meinungsfreiheit und  der Justiz die Anzahl der Skeptiker hinsichtlich der Gülen-Bewegung erhöht, aber der Zweifel bietet die bestmögliche Bühne, um zu zeigen,  dass die aufgedeckten Widersprüchlichkeiten auch überdacht werden können.

Auch außerhalb der Türkei besteht eine Bühne für die Bewegung, um ihr Bekenntnis zum Fortschritt unter Beweis zu stellen, und  zwar dergestalt, dass greifbare Verbesserungen im Leben vieler Muslime  bereits sichtbar werden. Würde der konstruktive Fokus, den diese  türkische Bewegung auf Wissenschaft und Technologie legt sowie auf Liebe und Dienst am Mitmenschen, die arabische Welt inspirieren können, bestünde Hoffnung auf einen Bedeutungsverlust des destruktiven  Gewaltkults in dieser Region. Der ideologische und tatsächliche Kampf  der Türkei gegen den Terrorismus lässt keinerlei Raum für einen  Vergleich mit dem autoritären, Terror unterstützenden Islam des Iran.

Der fremde muslimische Türke

Dennoch  werden Türken in westlichen Medien in einer Weise gezeichnet, die von  Verdächtigung und Entfremdung gekennzeichnet ist. Die unterkühlte  Aufnahme islamischer Prosperität, speziell wenn sie nicht auf Ölfeldern,  sondern auf ökonomischem Scharfsinn beruht, ist ziemlich frustrierend:

Während der Westen geschäftig ist, wenn es darum geht, den Islam von  Gewalt wegzusteuern, ist er nicht allzu erfreut darüber, ihn blühen zu  sehen. Darüber hinaus bemühen sich armenische Lobbygruppen, die  Entfremdung der Türkei in westlichen Augen aufrechtzuerhalten, indem sie  Tragödien der Vergangenheit wie das Schicksal der armenischen Bevölkerungsteile im späten Osmanischen Reich auf das Bild der modernen Türkei projiziert.

Der Versuch, die heutige türkische Regierung für  Talat Pasha und die spätottomanische Herrschaft zur Rechenschaft zu  ziehen ist in etwa so nachvollziehbar wie die Administration Obama für  Jefferson Davis und die Agenda der Konföderierten Staaten Amerikas  während des Bürgerkrieges verantwortlich zu machen. Die bloße Existenz  eines solchen Drucks offenbart eine anti-islamische Doppelmoral in der  heutigen Welt, die an der Spitze unnötigerweise betonter Differenzen  zwischen Muslimen und Christen steht.

Der kürzliche Artikel  Maximilian Popps im einflussreichen deutschen Wochenmagazin „Der  Spiegel“ versinnbildlicht den ethnozentrischen Chauvinismus, der alles unternimmt, um den progressiven Türken zu dämonisieren. Leider beruht  auch dieser Beitrag, der von vielen gelesen worden sein dürfte, auf der  irrigen Annahme, dass die vom Autor verfochtene säkulare Kultur die  universale Norm darstellt; er folgt seiner eigenen Kultur, auf der Basis  der von ihm selbst bevorzugten Kategorien, als wäre diese der exklusive  Maßstab, anhand dessen über andere Kulturen gerichtet und geurteilt werden solle.

Der  Beitrag offenbart die klare Absicht, die Standards, die Freiwillige der Gülen-Bewegung in ihrer Arbeit als elementar betrachten,, als seltsam und  ungewöhnlich erscheinen zu lassen. Diese Art der Entfremdung, die versucht, eine andere Kultur im Lichte einer aggressiven und parteiischen Verschreibung an die eigenen kulturellen Vorstellungen zu  präsentieren, sollte jedenfalls für ihre Verwendung von Übertreibung,  Scheinobjektivität und inszeniertem Kontext zurückgewiesen werden.  Tatsächlich wird eine solche Herangehensweise schon seit längerer Zeit  von verantwortungsbewussten Anthropologen kritisiert und sogar verdammt.

Horace Mitchell Miner’s brillanter satirischer Essay  „Körperrituale der Nacirema “ aus dem Jahre 1956 zeigt, dass sich sogar  die amerikanische Kultur entfremden lässt, wenn es der Autor darauf  anlegt, etwa wenn das Zähneputzen als „privates Mundritual“ und  Zahnärzte als „Männer des heiligen Mundes“ beschrieben werden.

Insbesondere, wenn Popp die von Gülen inspirierten Schulen anschwärzt, indem er die  autoritative Rolle des älteren Bruders und die Restriktionen bezüglich  TV, Musik oder dem Lesen nicht genehmigter Bücher in den Vordergrund  stellt, versucht er die Bewegung als freiheitsfeindlich darzustellen,  wobei ihm zu entgehen scheint, dass das Konzept der Disziplin nicht so  ungewöhnlich oder exklusiv auf diese Schulen beschränkt ist, sondern in  vielen Qualitätsprivatschulen, unter Berufssportlern oder auf  Militärakademien durchaus geläufig ist.

Wie auch immer, Popp wird nicht das englische Eton College, die Jugendakademie des FC  Barcelona oder die Akademie der US Marines dafür anprangern, dass sie  einen anderen Wert auf Disziplin legen. Gleichzeitig greift der Artikel  das Recht einer religiösen Gruppe auf Selbstbehauptung an. Wenn es „Der  Spiegel“ seltsam und erwähnenswert findet, dass Freiwillige der Bewegung  ermutigt (oder, wie Popp es nennt, „unter Druck gesetzt“) werden,  andere Freiwillige zu heiraten, bedeutet das auch, dass das Magazin ein kulturelles Problem mit anderen religiösen oder sozialen Gruppen hat,  die das Gleiche, zum Teil in einer noch nachdrücklicheren Weise, tun,  beispielsweise mit Juden?

Im Übrigen ist das Unterfangen, die eigene Religion mit Wissenschaft  zu verbünden, keine einzig auf Gülen beschränkte Erfindung, sondern eher eine Fortsetzung über Jahrhunderte gepflegter Bemühungen seitens islamischer Mutakallimun, jüdischer Denker und christlicher Theologen. Entsprechend leugnet Gülen auch keine wissenschaftlichen Fakten, wie es der Artikel behauptet, sondern er räumt vielmehr ein, dass das Überleben  des Islam davon abhängt, wie erfolgreich er wissenschaftliche Theorien  in den Glauben hinein assimiliert. Tatsächlich dämonisiert der Artikel  Religion, indem er selbst die lange geübte und in der Bibel verankerte  Praxis des „Zehnten“ als „undurchschaubare Finanzpraktik“ betrachtet.

Formulierungen  haben einen lang anhaltenden Effekt, insbesondere im Falle des ersten  Eindrucks. Wenn – wie im Artikel selbst behauptet – die deutsche  Öffentlichkeit nichts über die Gülen-Bewegung weiß, dann ist es sehr  wahrscheinlich, dass Artikel wie dieser die Freiwilligen der Bewegung,  Türken und Muslime als ausländische Gefahr erscheinen lassen. Die  ausgesprochene Negativität solcher Artikel wird deutlich, wenn man sich  die diffamierenden Worte vergegenwärtigt, die sorgsam ausgewählt wurden,  um die Bewegung zu beschreiben:

Zuschreibungen wie die Bewegung wäre  „obskur“, „verschwiegen“, „mafiaartig“ und „gefährlich“ führen zu  ungeteilter und umgehender Herabwürdigung; Freiwilligen zu unterstellen,  sie dienten Gülen bereitwilliger als der Allgemeinheit schaffen den  Eindruck von Selbstbedienung und Selbstverherrlichung; die Behauptung, die Bewegung bewege Freiwillige zur „Idolatrie“ kreiert einen starken  Eindruck von blinder statt besonnener Dienstbarkeit; die Suggestion, die  Büchersammlung eines stolzen Freiwilligen wäre eine reine  Selbstdarstellung ohne Substanz reflektiert krankhaften Zynismus; der  Vergleich mit Scientology oder Opus Dei legt gedanklich eine Verbindung  zu in Deutschland als kontrovers, sektenartig und bedrohlich  erscheinenden Gruppen nahe; die Darstellung, Gülen würde „Kontrolle“,  „Macht“ und „Einfluss“ als Teil einer Strategie, den Westen zu  dominieren, anstreben, appelliert an alte fremdenfeindliche  Ressentiments;  und, was am Schlimmsten ist, die Darstellung der  Gülen-Bewegung als Spinne, die Netze auslegt, in denen sich unschuldige  Deutsche verfangen sollen, die im „Spiegel“-Artikel anklingt, erinnert  nur allzu stark an die bekannte antisemitische Karikatur im  Nazi-Hetzblatt „Der Stürmer“, der Juden mit einer Spinne verglich, die  Menschen verschlingen würde, die sich in ihrem Netz verfingen.

Die  Islamisierung der Türkei ist eine Chance, keine Bedrohung. Es gibt  Leute, die Amerikas geringe Popularität unter Türken auf die  Islamisierung zurückführen, aber diese Rate ist genauso niedrig wie die retrospektive Zustimmungsrate zum Irakkrieg in Amerika selbst; andere  sehen eine Verbindung zwischen dem Konflikt mit Israel und der  Islamisierung der Türkei, aber eine unvoreingenommene Betrachtung  fördert zutage, dass es sich lediglich um eine Angelegenheit eines  pragmatischen, offensiven Realismus handelt, wie er von jeder anderen  Macht in der gleichen Situation wie die Türkei auch erwartet worden  wäre, egal ob säkular oder religiös.

Die Islamisierung der Türkei sollte nicht herabgewürdigt werden, sondern vielmehr gewürdigt  für die Synthese zwischen dem Islam und dem Westen, die sie zeigt. Nicht  der Säkularismus, sondern der protestantische Islam der Türkei ist eine  viel stärkere Grundlage für eine Brücke zwischen Islam und Christentum.  Die gegenwärtigen falschen Vorstellungen und die mangelhafte  Anerkennung der Rolle der Türkei in der Politik und im interreligiösen  Dialog kann elegant korrigiert werden durch die adäquate Aneignung von  Kenntnissen und entsprechendem Verhalten von Säkularisten und Westlern.

In  einer Zeit, da der Westen in großem Umfang herausgefordert wird durch umstürzlerische Entwicklungen in muslimischen Ländern, wird es nicht  unwichtiger für ihn, sich darauf zu konzentrieren, wie dieser Herausforderung durch einen tatsächlichen  islamischen kapitalistischen Erfolg in den Griff beizukommen ist.

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Übersetzt von Christian Rogler

Quelle: Todays Zaman

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Ist Israeli und hat 2005 den Mastergrad für Theologie an der Harvard Divinity School erworben.

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