Die Ereignisse in der Türkei haben nicht nur in der Türkei für eine aufgeheizte Stimmung gesorgt, sondern auch außerhalb der türkischen Grenzen. Vor allem gab es eine große Resonanz auf die Unruhen in der deutschen Presse, die beinahe sogar die tragischen Überschwemmungen im eigenen Lande überschattet hätten. So die Presse. Interessant ist vor allem die im internationalen Vergleich außerordentlich auffällige Art und Weise, die Ereignisse in der Türkei zu vermitteln, die man in der deutschen Presse beobachten konnte. .
Geht man vom typischen Beitrag in deutschen Medien aus, fällt eine boulevard-artige Betitelung der Artikel mit entsprechendem Inhalt auf, der den Eindruck erweckt, es würde eine bürgerkriegsähnliche Stimmung herrschen. Mittels einer bekannten Form der Medienanalyse soll die Sachlage verdeutlicht werden. Dabei soll die “Encoding-Decoding” Methodik von Stuart Hall herangezogen werden, um den Lesern einen besseren Einblick von der medialen Kommunikation der Taksim-Ereignisse zu gewähren.
Am deutschen Medienwesen soll die Welt genesen…
Eine kurze Definition des “Encoding-Decoding”-Modells ist hier angebracht. Das “Encoding-Decoding” Modell von Stuart Hall analysiert die Kodierung von Bedeutungen während der Produktion von Medienangeboten und der Dekodierung der Bedeutungen während der Aufnahme vom Konsumenten. Dabei wird hervorgehoben, dass die Deutungsfreiheit natürlich vom Individuum zu Individuum subjektiv zu beurteilen ist. Sprache, Ideologie und kulturelle Unterschiede der Konsumenten sind ausschlaggebend für die Unterschiede in der Interpretation der vermittelten Information seitens der Medien. Dabei werden drei verschiedene Lesearten bei der Dekodierung der Information definiert. Erstens die “Vorzugsleseart”, bei der die Information vollständig vom Konsumenten übernommen wird. Hier übernimmt der Konsument nicht nur die Information als solche, sondern auch die Wertung des Mediums. Zweitens die “ausgehandelte Leseart”, bei der die Art der Aufbereitung der Information akzeptiert wird, aber die eigene Meinung und Erfahrung mit hineinfliesst. Und die dritte Leseart ist die “oppositionelle Leseart”. Hierbei versteht der Konsument den medialen Inhalt, lehnt aber die Bedeutung ab. Er liest sozusagen zwischen den Zeilen und hinterfragt gezielt. Welcher Leseart würden Sie sich im allgemeinen zuordnen?
Die Medien in Deutschland lassen sowohl eine komplexe als auch eine banale Struktur der Berichterstattung über die Demonstrationen in der Türkei geben zu erkennen. Die Kodierung der Information wird zum größten Teil so einfach wie möglich gehalten, damit jeder erreicht werden kann. Es werden gezielt Banalitäten in die Informationen eingebaut, ohne wichtige Aspekte, die kompliziert sind, zu berücksichtigen. Man erkennt eine häufige Wiederholung der Inhalte, um den Bezugspunkt festzuhalten. Dabei wird die Information dem Konsumenten zwar nicht offen aufgezwungen, aber es findet doch eindeutig eine Konditionierung statt. Es werden exklusive Begriffe und Signalwörter herangezogen, um vergangene und zukünftige Erinnerungen entstehen zu lassen. Die Türkei ist in den deutschen Medien ohnehin ein heikles Thema. Es werden Assoziationen erzeugt, die viel eher destruktiv sind als konstruktiv.
Was den Konsumentenhorizont anbelangt, sind die türkische und die deutsche Bevölkerung relevante Zielgruppen für die Analyse. Die türkische Bevölkerung kann wohl die Lage in der Türkei besser beurteilen, weil sie der Sprache und der Kultur mächtig sind. Sie informiert sich auch über andere Kanäle, etwa türkischsprachige Medien, Verwandte und Bekannte vor Ort oder auch englischsprachige Formate. Und Deutschtürken sind sich stärker dessen bewusst, was die deutsche Presse auf die Beine bringt, als deutsche Leser. Bei Letzterem gibt es weniger Bedenken hinsichtlich der Glaubwürdigkeit der Information und Selbstkritik ist seltener. Die Dekodierung der Information ist dadurch für die deutschen Konsumenten schwieriger und kann daher schnell, bewusst oder unbewusst, in die erste Leseart, die “Vorzugsleseart” fallen.
„We report, you obey!“
Die Analyse im Fall der deutschen Taksim-Berichterstattung ist einfach. Ein Blick auf ausgewählte Titelschlagzeilen: „Alarmstufe Erdoğan!“, „Was will Erdoğan? Räumung, Rache, Referendum?“, „Tränengas-Gewehre wie scharfe Waffen eingesetzt“, „AKP schließt Neuwahlen aus – Proteste gehen weiter“, „Aufstand in der Türkei: Polizei setzt Tränengas gegen Demonstranten in Ankara ein“ und „Hunderte Verletzte auf dem Taksim-Platz“. Bei dieser Art der Methodik brauchen die Konsumenten nicht einmal den Artikel zu lesen, um tiefgreifend beeinflusst zu werden. Signalwörter prägen die Meinungen. Die Tiefsinnigkeit und subjektive Wahrnehmung lässt erahnen, dass die folgenden Punkte aufkommen: Die Türkei ist nicht bereit für den EU-Beitritt und der „Türkische Frühling“ ist nicht weit entfernt vom „Arabischen Frühling“. Das ist ein Beispiel, wie die kodierte Information subjektiv aufgenommen und dekodiert werden kann – und offenbar auch soll.
Die deutsche Presse ist auf dem Weg der Irreführung, denn die Lage in der Türkei ist definitiv nicht, wie der Eindruck vermittelt wird. Man spricht von „Neuwahlen“ und „Autokratie“ ohne ein handfestes Indiz. Der Druck der Regierung auf die Demonstranten ist auch wirtschaftlich bedingt. Investoren werden verunsichert und es stehen nicht zuletzt gigantische Projekte auf dem Spiel.
Aber wie es aussieht, sehen es deutsche Medien als besondere Serviceleistung an, den Leser nicht nur mit bloßen Informationen allein zu lassen, sondern ihm auch gleich zu sagen, wie er diese zu werten hätte. Sie halten ihre Leser offenbar für so beschränkt, dass sie meinen, diesen statt eigener Reflexion pawlowsche Reflexe beibringen zu müssen, weil alles andere sie überfordern würde. Was man vielleicht sogar als einen selbstkritischeren Zug betrachten könnte, als man ihnen zutrauen möchte…
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