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Eigentlich pflege ich nicht über Politik zu bloggen. Diesen Grundsatz setze ich heute aus, da es mich ärgert, wie die deutschen Medien über die Proteste in der Türkei berichten. Deut­sche Deu­tungs­mus­ter über­la­gern mas­siv eine mög­lichst neu­trale Bericht­er­stat­tung. Dadurch wird den Lesern ein Bild sug­ge­riert, was zwar schön in Deutsch­land exis­tie­rende Freund-Feind-Schemata hin­ein passt, aber mit der Situa­tion in der Tür­kei nur bedingt etwas zu tun hat.

Kom­men wir zunächst zu den Deu­tun­gen, wel­che in der deut­schen Presse vorherrschen:

  1. Die Demons­tran­ten seien Wut­bür­ger und Umwelt­schüt­zer.
  2. In der Tür­kei werde eine auto­ri­täre Poli­tik betrieben.
  3. Erdo­gan sei ein Des­pot.
  4. Es spiele sich ein tür­ki­scher Früh­ling ab.

Bevor ich die Punkte auf­greife möchte ich beto­nen, dass das Vor­ge­hen der Poli­zei nicht akzep­ta­bel und zu ver­ur­tei­len ist. Außer­dem sind die Arti­kel der Jour­na­lis­ten teil­weise deut­lich dif­fe­ren­zier­ter, als die Über­schrif­ten ver­mu­ten las­sen. Dies erklärt sich aus dem Fakt, dass in den Online­me­dien die Über­schrif­ten häu­fig nicht die Arti­kel­schrei­ber selbst ent­wer­fen, son­dern dar­auf spe­zia­li­sierte Redak­teure, die oft keine Ahnung vom Thema haben.

Worum geht es pri­mär bei den Pro­tes­ten am Taksim-Platz?

Die tür­ki­sche Gesell­schaft ist tief gespal­ten zwi­schen der konservativ-islamischen Bewe­gung, die von Erdo­gan und sei­ner AKP-Regierung ver­tre­ten wird und den Kema­lis­ten, zu denen die oppo­si­tio­nelle sozialdemokratische (und teils natio­na­lis­ti­sche) CHP aber auch Libe­rale, Ultranationalisten (MHP), Gewerk­schaft­ler usw. gehören.

Die­sen Kon­flikt ver­steht man nicht, ohne ein paar Worte über Ata­türk zu ver­lie­ren, was die deut­schen Medien bis­her nicht schaff­ten. Ata­türk bedeu­tet “Vater aller Tür­ken”. Um ihn exis­tiert bis heute ein Per­so­nen­kult. Er ist der Natio­nal­held der Tür­kei, da er nach dem ers­ten Welt­krieg die tür­ki­schen Trup­pen im Unab­hän­gig­keits­krieg gegen die Alli­ier­ten anführte und  letzt­lich die tür­ki­sche Repu­blik 1923 grün­dete. Er war von 1923 bis zu sei­nem Tod 1938 tür­ki­scher Staats­prä­si­dent und ver­ord­nete dem rück­stän­di­gen Land eine radi­kale Moder­ni­sie­rung. Sein Pro­gramm war der Kema­lis­mus. Der Kema­lis­mus ist der Sam­mel­be­griff aller Refor­men, die 1931 in fol­gende sechs Staats­prin­zi­pien mün­de­ten: Repu­bli­ka­nis­mus, Refor­mis­mus, Eta­tis­mus, Popu­lis­mus (Gleich­heit alle Bür­ger), Lai­zis­mus, Natio­na­lis­mus (Ein­heit von Staats­ge­biet und Staats­volk). Die repu­bli­ka­ni­sche Volks­par­tei (CHP, momen­tan in der Oppo­si­tion) führt in ihrem Par­tei­em­blem die sechs Prin­zi­pien in Gestalt von Pfei­len.

Diese Staats­prin­zi­pien ste­hen bis heute in der Ver­fas­sung der Tür­kei und wur­den nie ange­fasst. Eine bedeu­tende Rolle spielt dabei das Mili­tär, wel­ches Ata­türk her­vorbrachte und die Staats­grün­dung ermög­lichte. Es ver­steht sich als der „Hüter“ der kema­lis­ti­schen Repu­blik und damit der sechs Staats­prin­zi­pien. Ins­ge­samt drei­mal (1960, 1971, 1980) sah sich das Mili­tär ver­an­lasst, gegen die Regie­rung zu put­schen, damit das kema­lis­ti­sche Erbe bewahrt werde.

In der aktu­el­len Poli­tik fällt auf, dass es starke Gegen­sätze gibt. Auf der einen Seite ste­hen die religiös-demokratischen Kon­ser­va­ti­ven, die sich in der regie­ren­den AKP (Par­tei für Gerech­tig­keit und Auf­schwung) sam­meln und auf der ande­ren Seite die Kema­lis­ten, die sich vor allem im Mili­tär und der par­la­men­ta­ri­schen Oppo­si­ti­ons­kraft CHP befin­den. Die AKP ist seit 2002 an der Macht und ver­ab­schie­det sich nach und nach von eini­gen kema­lis­ti­schen Tabus.

Diese Refor­men waren nicht selten allein schon deshalb erfor­der­lich, da sie von der EU im Zuge eines mög­li­chen Bei­tritts­ver­fah­rens gefor­dert wur­den. Zu den Refor­men gehö­rten eine Beschnei­dung des poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Ein­flus­ses des tür­ki­schen Mili­tärs, eine gesetz­li­che Aner­ken­nung ande­rer Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten, eine Refor­mie­rung des Jus­tiz­we­sens, die Aus­wei­tung der Mei­nungs– und Orga­ni­sa­ti­ons­frei­heit sowie die Stär­kung der Zivil­ge­sell­schaft. Eine Folge davon sind z.B. Sen­dun­gen in kur­di­scher Spra­che im Staats­fern­se­hen. Die Refor­men bedeu­ten jedoch nicht, dass die kur­di­sche Frage gelöst wäre oder die AKP nicht kri­ti­siert wer­den sollte. Die reli­giö­sen Wur­zeln der Par­tei schü­ren Arg­wohn und es ist auch unsi­cher, wie libe­ral das Lai­zis­mus– und Demo­kra­tie­ver­ständ­nis der AKPtatsächlich ist. Gerade der Umgang mit den aktu­el­len Pro­tes­ten zeigt, dass die Mei­nungs– und Orga­ni­sa­ti­ons­frei­heit zwar auf dem Papier steht, aber in der Rea­li­tät oft mas­siv beschnit­ten wird. Die wirt­schaft­li­chen Erfolge der AKP Regie­rungs­zeit über­strahl­ten diese kri­ti­schen Punkte jedoch bis zu den momen­ta­nen Pro­tes­ten.

Kom­men wir nun zu den Grün­den der aktu­el­len Pro­teste am Taksim-Platz:

  1. Kampf um den öffent­li­chen Raum
  2. Sym­bol­kraft des Taksim-Platzes
  3. Unge­löste Kon­flikte zwi­schen AKP und Kemalisten

Die Demons­tran­ten sind keine Wut­bür­ger und auch keine Umwelt­schüt­zer. Auch wenn es für grüne Jour­na­lis­ten hart klin­gen mag, ihnen sind die 70 Jahre alten Bäume egal. Um die Wut zu ver­ste­hen, müs­sen wir uns anschauen, was vor dem Park an der Stelle war und was die AKP dort bauen will. Kerim Balci beschrieb dies im deutsch-türkischen Jour­nal sehr schön. Der Park soll der his­to­ri­schen Topçu (Artillerie)-Kaserne wei­chen. Diese Kaserne steht sym­bo­lisch für die Beset­zung Istan­buls durch die Alli­ier­ten nach dem ers­ten Welt­krieg. Also genau für das, woge­gen sich Ata­türk im Unab­hän­gig­keits­krieg auf­lehnte. In der Mitte des Taksim-Platzessteht das Denk­mal der Repu­blik, wel­ches an die Grün­dung der Repu­blik 1923 erin­nert. Die­ser wich­tige kema­lis­ti­scheErin­ne­rungs­ort soll mit der Kaserne kon­fron­tiert wer­den. Zusätz­lich plant dieAKP einen Moschee­bau am Taksim-Platz. Bei­des ist ein fron­ta­ler Angriff auf den Grün­dungs­my­thos der Tür­kei sowie die sechs Staats­prin­zi­pien und damit auch auf die Kemalisten.

Die Pro­teste sind ein wei­te­res Zei­chen des Rin­gens um die Macht zwi­schen AKP und Kema­lis­ten. Der 2007 geschei­terte Ver­such des Mili­tärs, die Wahl Abdul­lah Güls zum Prä­si­den­ten zu ver­hin­dern und die seit 2007 lau­fen­den Straf­ver­fah­ren im Fall „Erge­ne­kon“ sind wei­tere Indi­ka­to­ren für die­sen Kampf. Deu­tun­gen wie Wut­bür­ger, Umwelt­schutz oder Vor­würfe wie auto­ri­täre Poli­tik, Des­po­tie sind hingegen teil­weise aus­schließ­lich deut­schen Deu­tungs­mus­tern ent­sprun­gen oder ver­an­schau­li­chen Aus­for­mun­gen des Kamp­fes zwi­schen AKP und Kema­lis­ten. Wer in den Pro­tes­ten einen „Tür­ki­schen Früh­ling“ sieht und damit auf die Gescheh­nisse in Ägyp­ten, Tune­sien und Libyen anspielt, hat schlicht keine Ahnung. Die Lage in der Tür­kei ist eine völ­lig andere als in den ande­ren Ländern.

Ich möchte vor einem ein­fachen Freund (Kema­lis­ten) — Feind (AKP) — Schema war­nen, wie es in Deutschland so gerne gepflegt wird. Die Fixie­rung auf die sechs Staats­prin­zi­pien sei­tens der Kema­lis­ten führt in der heu­ti­gen Tür­kei zu einer absur­den Situa­tion. Die Kema­lis­ten zu Leb­zei­ten Ata­türks waren sehr west­lich aus­ge­rich­tet und führ­ten die Tür­kei erfolg­reich in die Moderne. Außer­dem schaff­ten sie es, in einem mus­li­mi­schen Land Staat und Reli­gion zu tren­nen und die Scha­ria als Rechts­grund­lage abzu­schaf­fen. Die Enkel die­ser Kema­lis­ten ste­cken hingegen teil­weise ideo­lo­gisch immer noch in den 30ern fest, wes­halb sie jetzt mehr­heit­lich auch Geg­ner einer West­in­te­gra­tion sind. Die Enkel der Tra­di­tio­na­lis­ten (AKP) dage­gen, die zu Zei­ten Ata­türks gegen die Refor­men oppo­nier­ten, sind nun starke Befür­wor­ter einer solchen.

Neh­men wir nun alle beschrie­be­nen Punkte zusam­men, dann lässt sich fest­stel­len, dass beide Sei­ten jeweils Stand­punkte ver­tre­ten, die wir aus deut­scher Per­spek­tive gewöhn­lich als gut oder schlecht emp­fin­den. Des­halb funk­tio­niert das Freund-Feind-Schema, wel­ches flei­ßig bemüht wird, eigent­lich nicht.

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Promoviert in Soziologie über den Einfluss von Web 2.0 auf Organisationsstrukturen und dem Kommunikationsverhalten von Mitarbeitern

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