Mit Politik, den Bundespräsidenten und den anderen Phänomenen habe ich herzlich wenig zu tun. Meine Philosophie, bezüglich meiner gesellschaftlichen Existenz lautet:
Dein Sein und mein Sein,
Dein Tun und mein Tun; daraus entsteht eine Zukunft und an dieser arbeiten wir und bilden diese gemeinsam.
Doch heute bin ich auf die Rede des ehemaligen Bundespräsidenten von der BRD gestoßen. In dieser Rede gibt es viele Stellen, die es wirklich wert sind, einzeln zitiert und analysiert zu werden, aber dies würde den Rahmen sprengen, deshalb möchte ich mit dem folgenden Zitat, meine Gedanken einleiten:
„Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass,
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht. Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit. Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir können, der Wahrheit ins Auge.“
(Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages.) 1
1985 war ich gerade mal vier Jahre alt. Heute, nach insgesamt 27 Jahren fühle ich mich, von der Rede des damaligen Bundespräsidenten angesprochen und betroffen.
Betroffen, vielleicht deshalb, weil ich damals nicht wusste, nicht wissen musste und konnte, aber heute sehr wohl meine zu wissen. Ich meine zu wissen, welche Vergangenheit und welche Zukunft gemeint ist … Eine Vergangenheit, die ihren Schatten auf uns, eine gesamte Menschheit wirft.
Eine Zukunft, die heute zu gestalten ist.
Ein Bundespräsident rät seinem Volk, zu dem ich mich heute auch zähle, sich von Hass und Feindschaft zu distanzieren.
Nicht zu spalten, sondern zu einigen.
Er hielt eine Rede, die wirklich mit Weisheiten geschmückt ist. Er war sich seiner Verantwortung als Bundespräsident der BRD (1984-1994), bewusst
Ich möchte mich, meine Leserinnen und Leser an die Weisheiten erinnern. Mich daran, wie es mit mir war und uns daran, wie es werden könnte.
Wie vehement wichtig es ist, sich zu erinnern, kommt in dieser Rede ebenfalls zur Geltung und obwohl mittlerweile 27 Jahre vergangen sind, empfinde ich auch diese Stelle, als eine wichtige und erwähnenswerte.
“ Es geht nicht darum, Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“
Selbst nach Ablauf von 27 Jahren können wir noch immer nicht sagen, dass wir uns reichlich erinnern.
Die Vergangenheit verlangt, dass wir uns erinnern. Die Gegenwart warnt davor, die Augen zu verschließen vor dem, was heute passiert. Was nun die Zukunft von uns erwartet, bleibt eine offene Frage.
Soviel zu Herrn Weizsäcker.
Wulff: Die Chance zu bleiben
Auch am 3. Oktober 2010, am Tag der Deutschen Einheit, spricht der damals amtierende Bundespräsident der BRD zum deutschen Volk und schließt auch Menschen wie mich, in seine Rede ein.
Er hat gesagt:
„Wir sind Deutschland. Ja: Wir sind ein Volk. Und weil diese Menschen uns mit diesen ausländischen Wurzeln wichtig sind, will ich nicht, dass sie verletzt werden in durchaus notwendigen Debatten. Legendenbildungen, Zementierung von Vorurteilen und Ausgrenzungen dürfen wir nicht zulassen. Das ist in unserem eigenen nationalen Interesse.“ 2
25 Jahre nach Weizsäckers Rede hörte ich nun einem Bundespräsidenten zu, der in seiner Rede deutlich machte, dass er auch Menschen wie mich in diesem Lande repräsentiert.
Vielmehr hörte ich einen Botschafter des Friedens, der Anerkennung und des Miteinanders. Ich habe mich mit meinem „Anderssein“ als angekommen und als Individuum, zugehörig gefühlt.
Wulff hatte mir Mut gemacht, mich mit Herzblut für das hiesige Land einzusetzen, ohne zu bedenken, dass Menschen wie ich, weiter missverstanden bleiben. Er hatte mir seine Unterstützung angeboten, die ich dankend annahm. Er sprach zu mir, als ob er sagen wollte; sie sollen bleiben.
Bis dahin ähnelte meine Anwesenheit in Deutschland einem Reisenden, der stets auf den Koffern saß, weil er nicht wusste, ob er wirklich bleiben konnte. Einem Reisenden, der zwar ein Zimmer vor Ort gebucht hatte, jedoch keins erteilt bekam, als er ankam.
Doch bin ich weder eine Reisende, noch Urlauberin in einem mir fremden Land.
Man bedenke; ich bin, eine hier Geborene.
Diesen Zustand jedoch, mussten viele hierzulande an die 25 Jahre ertragen.
Deshalb schmiedete ich Pläne, eventuell auszuwandern. Hierfür habe ich sogar den gepackten Koffer bereitgehalten, den ich eines Tages nahm und in das Herkunftsland meiner Eltern ging. Ich ging, um anzukommen. Tatsächlich wurde ich dort nicht mehr danach gefragt, woher ich kam. Dort wollte ich mein Studium fortsetzen. An der Uni profitierte ich von der Vielfalt, die ich aus Deutschland mitbrachte.
Eine Vielfalt, die hierzulande in Frage gestellt wird, ob und wie viel wir davon vertragen können, wurde dort plötzlich zu einem riesigen Gewinn.
Immerhin konnte ich Englisch, Deutsch und Französisch.
Meinen kurdischen Freunden hatte ich zu verdanken, dass ich etwas Kurdisch, meinen italienischen Freunden, etwas Italienisch und bei meinen russischen Freunden hatte ich mich zu bedanken dafür, dass ich auch etwas Russisch konnte.
Das war ein riesiges Geschenk, das mir Deutschland machte. Dieses Geschenk nahm ich gerne an und gab es weiter. Vielfalt wurde dort, ohne Wenn und Aber angenommen.
In den Pausen, zwischen den Vorlesungen, saß ich auf dem Gipfel eines Berges, mit Blick auf das Meer. Der Wind strich mir über die Haare und den Tee genoss ich mit voller Hingabe. Alles war perfekt. Alles, was ich in Deutschland vermisste, hatte ich nun in Reichweite.
Doch fehlte mir Deutschland sehr. Die Russen fehlten mir, die Italiener, die Griechen, die Deutschen, kurz; die Vielfalt Deutschlands fehlte mir. So kam ich zurück.
Dort wurde mir klar, dass die Sehnsucht nach Orten erträglicher ist, als die Sehnsucht nach Menschen. Orte können sich aneinander ähneln, plötzlich kann sich der Mensch unter einem Baum heimisch fühlen. Ein einziger Bau, kann eine Heimat ersetzen. Dabei ist der Mensch so einzigartig, in seiner Stimme, in seiner Mimik, kurz; in seinem Wesen… Der Mensch ist unersetzlich.
Auch musste ich mich in dieser Zeit damit auseinandersetzen, dass es einfacher gesagt ist als getan, ein Land zu verlassen und in einem anderen, ein neues Leben anzufangen. Deutschland ist ein vielfältiges Land. Mit vielen Gesichtern und Farben. Zwischen zwei Stühlen, kann ein Mensch nicht sitzen. In der Türkei, in einer der schönsten Städte dort, konnte ich nicht bleiben. Bleiben, ist ein starkes Verb, vielleicht konnte ich deswegen nicht bleiben, weil der Zustand, Sehnsucht nach den Menschen zu haben, stärker war als das Verb „bleiben“.
Auch Wulff konnte nicht im Amt bleiben: auch er musste gehen.
Gauck distanziert sich von beiden
Eines der wichtigen Aussagen, die Wulff in seiner oben erwähnten Rede machte, war auch die Aussage, dass der Islam zu Deutschland gehöre.
Genau an dieser Stelle musste sein neuer Nachfolger Wulff irgendwie korrigieren.
Er musste Etwas wieder geradestellen, was umgefallen war.
„Ein-Satz-Formulierungen über Zugehörigkeit seien immer problematisch, erst recht, wenn es um so heikle Dinge geht, wie Religion“, sagte Gauck. 3
Dass die Religion ein heikles Thema ist, habe ich nach dem 11. September erfahren. Auf einmal musste ich mich mit meiner Religion auseinandersetzen.
Konnte ich wirklich, wie etwa in den Medien dargestellt wird, mich zu einem gewaltbereiten Menschen entwickeln, nur weil ich Muslima bin? War der Islam wirklich eine Religion, die zur Gewalt und Intoleranz Andersgläubigen gegenüber aufrief? Konnten die tragischen Geschehnisse des 11. Septembers auch anderweitig erklärt werden?
Als eine weniger informierte, weniger religiöse Person, die dem islamischen Kreis nun einmal angehörte, musste ich mich auch noch als eine Muslima rechtfertigen, ohne zu wissen, was der Islam im Kern bedeutete. Ehe ich Antworten suchen und finden konnte, wurden bereits mittels Medien Antworten geliefert. Auf einmal waren sie da; die Islamwissenschaftler, die Islamkenner- und Hasser. Eine Religion wurde zu einem populären Thema. Den Tipp, Islamwissenschaften zu studieren, habe ich in der Zeit, öfter denn je gehört. „Warum studierst Du eigentlich nicht Islamwissenschaften?“ fragte mich, unsere Oberstufenleiterin, als wir unsere Abi- Hochrechnungen gemeinsam machten. Dass ich mich für Literatur und Sozialwissenschaften interessierte, sagte nur noch wenig über mich aus. Auf einmal wurde ich mit den Terroristen gleichgesetzt und musste deren Taten erklären und verfügte über Null- Wissen über diese Religion. Über Marx und Atatürk könnte ich berichten, doch über den Islam und seinen Propheten hingegen, wenig. Bis zum 11. September war ich eine Menschenrechtsaktivistin, mit allem Drum und Dran. Die Kurdenfrage war aktuell. Ich war ein Arbeiterkind. Arbeiterkinder hielten zusammen und träumten gemeinsam , von einer klassenlosen Gesellschaft.
Wenn ich heute auf die Debatten schaue, denke ich mir: Schade diesem Tipp nicht gefolgt zu sein. Wie eine riesige Torte steht dieses Thema zur Verfügung. Wer darüber schreibt und berichtet, wird populär… und kann für sich ein riesiges Stück an Popularität beanspruchen.
Sogar Politiker agieren als Islamwissenschaftler. Viele schreien: „Hier bin ich. . .Hier bin ich… Auch ich habe, was zu sagen…Seht mich doch.“, rufen wieder andere, die sich etablieren möchten.
Da hat er Recht, unser jetziger Bundespräsident, das Thema der Religion ist wirklich ein heikles Thema. Über den Islam zu sprechen ist noch heikler, am heikelsten ist es, wenn über praktizierende Muslime gesprochen wird. Diese bilden nämlich die populärste Gruppe unserer heutigen Gesellschaft.
Also, er hätte die Frage um die Zugehörigkeit des Islams zu Deutschland lieber so beantwortet:
„Und die Wirklichkeit ist, dass in diesem Lande viele Muslime leben. … Ich hätte einfach gesagt, die Muslime, die hier leben, gehören zu Deutschland. “
Eine erfrischende zusätzliche Aussage.
Gauck, hat sich mit diesen Aussagen nicht nur von seinem Vorgänger Wulff distanziert, sondern auch von der Mehrheit der Muslime, die in Deutschland leben. Wie nämlich, soll das Phänomen Muslimsein, ohne den Islam erklärt werden? Kann Musik, ohne die dazu nötigen Noten praktiziert werden? Kann ich einen Musiker gernhaben, ohne das Instrument zu mögen, das er weiß zu beherrschen? Ist die Stimme mehr Wert, als das Wort? Wer soll hier, wen aufgeben? Musste ich nicht den Terrorismus damals in den Abiturjahren meiner Bildungsgeschichte, aus der Perspektive des Islams erklären? Wurde ich damals nicht als Anwältin einer Religion, nämlich des Islams, vor meine Mitschülerinnen- und Schüler gestellt? Das obwohl ich den Islam weniger kannte, als den Sozialismus und somit weit weg von Moscheen und Imamen stand?
…
Wir werden gemeinsam sehen, welche Auswirkungen die Aussagen des Bundespräsidenten Gauck haben.
Ich weiß heute, dass eine Zukunft aus den Erkenntnissen der Gegenwart gebildet wird und ein Ganzes aus den vielen Einzelteilen. Und ich, als ganzer Mensch, bestehe aus meinen metaphysischen und physischen Teilen. So wie mein Körper sich ernähren muss, muss sich auch meine Seele ernähren.
Gegenwart ist Zukunft und Vergangenheit, ist ein guter Lehrer für die Gegenwart.
Wo Gefühle eine große Rolle spielen, bleibt der Politik wenig Raum. Gefühle sind vieldeutig und Politik zwar vielversprechend im Schein, aber mit dem wahren Sein, nicht verknüpft.
Das wahre Sein der Gesellschaft, ist mein Sein und Dein Sein.
…
Soviel zur Geschichte der drei Bundespräsidenten.
Als Weizsäcker sein Volk dazu aufrief, Wege für ein gemeinsames Leben zu finden, war ich vier Jahre alt. Heute sagt Gauck, Muslime gehören hierher, aber der Islam gehöre nicht zu Deutschland und meine beiden Söhne sind heute vier und fünf Jahre alt.
„Schuld oder Unschuld eines ganzen Volkes gibt es nicht. Schuld ist, wie Unschuld, nicht kollektiv, sondern persönlich“. (Richard von Weizsäcker)
An dieser Stelle übernehme ich nochmals das Wort und sage, im gemeinsamen Interesse, verantwortungsbewusst im Namen der Zukunft, zu erwachen. Unschuld gibt es an keinem Ort dieser Welt. Was verdrängt wird, wird einst erwachen. Was übersehen wird, wird einst ins Auge stechen.
Ehe es zu spät wird, sind nun die Wege zueinander, zu bestreiten.
Manchmal ist das gesagte Wort lehrreich, das ungesagte hilfreich.
Wie wir sehen, kommen und gehen Politiker.
Was uns bleibt, ist die Realität der Menschen.
Auch die Macht. Auch die Kraft. Auch die Popularität der Themen.
Nichts ist ewig, außer den gesagten Worten.
Rana Argan gab sich Mühe, sich kurz zu fassen .
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1 Bundeszentrale für politische Bildung