Das nächtliche Gespräch mit dem alten Bauern Metin in der Nähe von Nevşehir hat mich in meinen Gedanken lange noch weiterverfolgt. Er sagte, „Ermeni“ seien heimlich in weite Teile des Landes eingedrungen, und sie rächen sich für früher einmal an ihnen begangenes Unrecht. „Verräter“ hat mein Freund Nureddin mir übersetzt, aber ich wusste, dass es „Armenier“ bedeutet und fragte Nurredin danach. Nein, Metin gebrauche das Wort verallgemeinernd – aber als das Wort erneut von Metin kam, fragte Nurredin selbst nach und bekam bestätigt, dass Metin tatsächlich die Armenier meinte. Diese Christen seien der Verfolgung 1915 teilweise lebend entkommen, später als alevitische Muslime oder Kurden mit neuer Identität in die Gesellschaft zurückgekehrt und vergifteten diese nun mit ihren Racheplänen.
Ich dachte an andere Verschwörungstheorien, die in der Türkei kursieren und las später einiges darüber nach. Die Sabbatianer etwa, so glauben viele, würden einen viele Tausende Menschen umfassenden Geheimbund bilden, der letztlich jüdische Quellen habe und dem Weltjudentum und dem Zionismus zuarbeite. Auch hier gibt es einen historischen Ausgangspunkt: Den erstaunlichen Aufstieg des 1626 in Smyrna geborenen Juden Sabbatai Zwi, der in der Zeit der Wirren nach dem Dreißigjährigen Krieg und der grausamen Pogrome in Russland von den Juden in weiten Teilen der Welt als Messias verehrt wurde, und der dann überraschend zum Islam konvertierte.
Bereits wenige Monate nach seiner angeblichen Berufung zum Messias ging Sabbatai Zwi nach Istanbul, wo er verhaftet und zum Tode verurteilt wurde. Um diesem Urteil zu entgegen, wurde er Moslem. Er wurde aber wenige Jahre später erneut angeklagt, diesmal, weil man ihm Abfall vom Islam vorwarf, und zur Verbannung nach Albanien verurteilt, wo er 1676 starb.
Parallelen zu der europäischen Völkerwanderung
So wie Sabbatai Zwi konvertierten tausende von Juden damals zum Islam, wurden aber ebenso wie er den Verdacht nicht los, sie seien heimlich Juden geblieben und praktizierten ihren Glauben unerkannt und unter strenger Geheimhaltung weiter. Im Internet finden sich antisemitische Artikel, die auch Atatürk zum Juden und Sabbatianer erklären und zusammen mit ihm auch alle Jungtürken.
Wenn man sich in die türkische Gedankenwelt hineinversetzt und sich für einen Augenblick erlaubt, an den Fäden aller dieser Theorien weiterzuspinnen, stößt man auf dem Boden aller Überlegungen auf ein wichtiges Grundproblem des türkischen Volkes: Es besteht in einer noch nicht zur Ruhe gekommenen Völkerwanderung.
Anders als die europäische Völkerwanderung nach 350* beginnt die Einwanderung der Turkvölker erst sehr viel später, um 1050. Es sind als erstes die Seldschuken, deren Reich später unter dem Angriff der damals auch nach Europa vordringenden Mongolen wieder zerbricht. Eine Einheit findet sich erst wieder, nachdem weitere muslimische Stämme eingewandert sind und einer von ihnen, der Stamm der Osmanen, nach 1300 kontinuierlich Kleinasien und angrenzende Gebiete unter seine einheitliche Kontrolle bringt.
Bei uns in Europa war es anders, da eroberten die jungen, wandernden Stämme und Völker nach 350 im wesentlichen keine alten Kulturnationen und waren selbst auch nicht im Besitz einer eigenen, religiös begründeten Kultur. Das macht eine am Ende homogene Vermischung einfach. Die Seldschuken dagegen wandern bereits als Muslime in die Türkei ein und treffen dort auf Christen. Dadurch sind sie und die nachfolgenden türkisch-muslimischen Stämme bis zur Gegenwart zum Zusammenleben mit der vor ihnen im Land vorhandenen christlichen oder kurdischen Bevölkerung gezwungen, wobei der vielfach gemeinsame Glaube der Türken und Kurden die Gegensätze nicht immer ausgleichen konnte.
Mevlana Rumi als Antithese zu Religions- und Nationalitätenhass
Nach meinem Eindruck hat die entlang ganz anderer Linien verlaufende Völkerwanderung in der Türkei dafür gesorgt, dass es dort immer Bevölkerungsgruppen gab, die von der eingewanderten Mehrheit als nicht mit ihr solidarisch angesehen wurden. Das wurde dann zu einer unerschöpflichen Quelle für Misstrauen, Verschwörungstheorien und am Ende vielleicht auch von wirklichen Verschwörungen.
Aber es gibt auch ganz andere, sehr viel glücklicher verlaufene Entwicklungslinien in diesem Land in der Zeit nach 1050. In seinem Buch „Das Goldene Zeitalter des Christentums“ beschreibt Philip Jenkins zunächst ganz allgemein vergangene Kulturen, in denen das Zusammenleben unterschiedlicher Ethnien und Religionen keine Quelle der Spaltungen und Verdächtigungen war, sondern im Gegenteil ein Hort der gegenseitigen Bereicherungen. Mit Blick auf das Reich der Seldschuken zeichnet er das schöne Bild des in der heutigen Türkei hochverehrten Mystikers Mevlana Rumi (1207 – 1273). Dessen größte Freude sei es gewesen, die christlichen Mönche im nahen Kloster St. Chariton im heutigen Sille bei Konya zu besuchen. Deren mystische Tradition war auf ganz ähnliche Ziele gerichtet wie die des Mevlana Rumi. Vielleicht hat es ihm in seinem Denken geholfen, dass die akute Bedrohung und dann die spätere Eroberung seiner Stadt Konya durch die einer Naturreligion anhängenden Mongolen den Gedanken, die in Konya alt-ansässigen Christen und die erst vor etwa 150 Jahren eingewanderten seldschukischen Muslime seien Feinde, gar nicht erst zuließ.
Philip Jenkins geht einen Schritt weiter und beschreibt historische Begegnungen zwischen Muslimen und Christen, in denen die einen von den anderen Sitten und Gebräuche übernahmen, wo Muslime tauften und Weihnachten feierten und wo christliche und muslimische Heilige mal unter dem einen, mal unter dem anderen Namen verehrt und um ihren Schutz angefleht wurden.
Wenn untergegangene Religionen durch jüngere bewahrt werden
Jenkins beschreibt mit Wehmut den Untergang der großen religiösen Kulturen früherer Zeiten. Oft sind sie wieder auferstanden, wie das Christentum in China und Japan, oft aber verlieren sich ihre Spuren. Und doch, legt Jenkins nahe, bewahrt in glücklichen Momenten die überlebende, die dominante Religion etwas von der Vorgängerin in sich auf und gibt es weiter.
Deshalb ist es vielleicht kein Wunder, wenn es mir manchmal so erscheinen will, als ob aus den Worten meines mystisch veranlagten Freundes und Mevlana-Anhängers Nureddin die Stimme der Mönche aus dem Kloster St. Chariton bei Konya herüberzuklingen scheint, Mystiker auch sie, gewiss auch Inspiratoren für Mevlana.
Ich las im Internet, dass es Mevlanas Wunsch war, den Christen die Pflege seines Grabes zu überlassen. Er hat im Gegenzug dafür gesorgt, dass sie in St. Chariton und dem angrenzenden Dorf ihr christliches Leben weiterführen durften. In der Konsequenz hat es in dem heutigen „Sille“ bis 1924 Menschen mit einer besonderen, dem griechischen verwandten Sprache gegeben. Auch wenn sie später Türkisch sprachen, schrieben sie ihre Inschriften und Grabsteine weiterhin in Griechisch. Man kann es heute noch sehen. Erst der durch Atatürk befohlene Bevölkerungstausch zwischen Griechen und Türken beendete diese besondere, bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte des Dorfes.
Ist „Ermeni“ gleichbedeutend mit „Verräter“, wie es mir Metin im nächtlichen Gespräch erklärte? Oder kann der Andersgläubige in meiner Nachbarschaft für mich zum Boten einer Wahrheit werden, die ewig ist und auch dann nicht vergeht, wenn die eine Religion scheinbar Platz für die andere machen muss?
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* zwischen 350 und 550 wandern asiatische Stämme (Hunnen) und mitteleuropäische Stämme (Goten, Langobarden und andere) mit Zielrichtung Westen und Süden