Eigentlich pflege ich nicht über Politik zu bloggen. Diesen Grundsatz setze ich heute aus, da es mich ärgert, wie die deutschen Medien über die Proteste in der Türkei berichten. Deutsche Deutungsmuster überlagern massiv eine möglichst neutrale Berichterstattung. Dadurch wird den Lesern ein Bild suggeriert, was zwar schön in Deutschland existierende Freund-Feind-Schemata hinein passt, aber mit der Situation in der Türkei nur bedingt etwas zu tun hat.
Kommen wir zunächst zu den Deutungen, welche in der deutschen Presse vorherrschen:
- Die Demonstranten seien Wutbürger und Umweltschützer.
- In der Türkei werde eine autoritäre Politik betrieben.
- Erdogan sei ein Despot.
- Es spiele sich ein türkischer Frühling ab.
Bevor ich die Punkte aufgreife möchte ich betonen, dass das Vorgehen der Polizei nicht akzeptabel und zu verurteilen ist. Außerdem sind die Artikel der Journalisten teilweise deutlich differenzierter, als die Überschriften vermuten lassen. Dies erklärt sich aus dem Fakt, dass in den Onlinemedien die Überschriften häufig nicht die Artikelschreiber selbst entwerfen, sondern darauf spezialisierte Redakteure, die oft keine Ahnung vom Thema haben.
Worum geht es primär bei den Protesten am Taksim-Platz?
Die türkische Gesellschaft ist tief gespalten zwischen der konservativ-islamischen Bewegung, die von Erdogan und seiner AKP-Regierung vertreten wird und den Kemalisten, zu denen die oppositionelle sozialdemokratische (und teils nationalistische) CHP aber auch Liberale, Ultranationalisten (MHP), Gewerkschaftler usw. gehören.
Diesen Konflikt versteht man nicht, ohne ein paar Worte über Atatürk zu verlieren, was die deutschen Medien bisher nicht schafften. Atatürk bedeutet “Vater aller Türken”. Um ihn existiert bis heute ein Personenkult. Er ist der Nationalheld der Türkei, da er nach dem ersten Weltkrieg die türkischen Truppen im Unabhängigkeitskrieg gegen die Alliierten anführte und letztlich die türkische Republik 1923 gründete. Er war von 1923 bis zu seinem Tod 1938 türkischer Staatspräsident und verordnete dem rückständigen Land eine radikale Modernisierung. Sein Programm war der Kemalismus. Der Kemalismus ist der Sammelbegriff aller Reformen, die 1931 in folgende sechs Staatsprinzipien mündeten: Republikanismus, Reformismus, Etatismus, Populismus (Gleichheit alle Bürger), Laizismus, Nationalismus (Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk). Die republikanische Volkspartei (CHP, momentan in der Opposition) führt in ihrem Parteiemblem die sechs Prinzipien in Gestalt von Pfeilen.
Diese Staatsprinzipien stehen bis heute in der Verfassung der Türkei und wurden nie angefasst. Eine bedeutende Rolle spielt dabei das Militär, welches Atatürk hervorbrachte und die Staatsgründung ermöglichte. Es versteht sich als der „Hüter“ der kemalistischen Republik und damit der sechs Staatsprinzipien. Insgesamt dreimal (1960, 1971, 1980) sah sich das Militär veranlasst, gegen die Regierung zu putschen, damit das kemalistische Erbe bewahrt werde.
In der aktuellen Politik fällt auf, dass es starke Gegensätze gibt. Auf der einen Seite stehen die religiös-demokratischen Konservativen, die sich in der regierenden AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) sammeln und auf der anderen Seite die Kemalisten, die sich vor allem im Militär und der parlamentarischen Oppositionskraft CHP befinden. Die AKP ist seit 2002 an der Macht und verabschiedet sich nach und nach von einigen kemalistischen Tabus.
Diese Reformen waren nicht selten allein schon deshalb erforderlich, da sie von der EU im Zuge eines möglichen Beitrittsverfahrens gefordert wurden. Zu den Reformen gehörten eine Beschneidung des politischen und gesellschaftlichen Einflusses des türkischen Militärs, eine gesetzliche Anerkennung anderer Religionsgemeinschaften, eine Reformierung des Justizwesens, die Ausweitung der Meinungs– und Organisationsfreiheit sowie die Stärkung der Zivilgesellschaft. Eine Folge davon sind z.B. Sendungen in kurdischer Sprache im Staatsfernsehen. Die Reformen bedeuten jedoch nicht, dass die kurdische Frage gelöst wäre oder die AKP nicht kritisiert werden sollte. Die religiösen Wurzeln der Partei schüren Argwohn und es ist auch unsicher, wie liberal das Laizismus– und Demokratieverständnis der AKPtatsächlich ist. Gerade der Umgang mit den aktuellen Protesten zeigt, dass die Meinungs– und Organisationsfreiheit zwar auf dem Papier steht, aber in der Realität oft massiv beschnitten wird. Die wirtschaftlichen Erfolge der AKP Regierungszeit überstrahlten diese kritischen Punkte jedoch bis zu den momentanen Protesten.
Kommen wir nun zu den Gründen der aktuellen Proteste am Taksim-Platz:
- Kampf um den öffentlichen Raum
- Symbolkraft des Taksim-Platzes
- Ungelöste Konflikte zwischen AKP und Kemalisten
Die Demonstranten sind keine Wutbürger und auch keine Umweltschützer. Auch wenn es für grüne Journalisten hart klingen mag, ihnen sind die 70 Jahre alten Bäume egal. Um die Wut zu verstehen, müssen wir uns anschauen, was vor dem Park an der Stelle war und was die AKP dort bauen will. Kerim Balci beschrieb dies im deutsch-türkischen Journal sehr schön. Der Park soll der historischen Topçu (Artillerie)-Kaserne weichen. Diese Kaserne steht symbolisch für die Besetzung Istanbuls durch die Alliierten nach dem ersten Weltkrieg. Also genau für das, wogegen sich Atatürk im Unabhängigkeitskrieg auflehnte. In der Mitte des Taksim-Platzessteht das Denkmal der Republik, welches an die Gründung der Republik 1923 erinnert. Dieser wichtige kemalistischeErinnerungsort soll mit der Kaserne konfrontiert werden. Zusätzlich plant dieAKP einen Moscheebau am Taksim-Platz. Beides ist ein frontaler Angriff auf den Gründungsmythos der Türkei sowie die sechs Staatsprinzipien und damit auch auf die Kemalisten.
Die Proteste sind ein weiteres Zeichen des Ringens um die Macht zwischen AKP und Kemalisten. Der 2007 gescheiterte Versuch des Militärs, die Wahl Abdullah Güls zum Präsidenten zu verhindern und die seit 2007 laufenden Strafverfahren im Fall „Ergenekon“ sind weitere Indikatoren für diesen Kampf. Deutungen wie Wutbürger, Umweltschutz oder Vorwürfe wie autoritäre Politik, Despotie sind hingegen teilweise ausschließlich deutschen Deutungsmustern entsprungen oder veranschaulichen Ausformungen des Kampfes zwischen AKP und Kemalisten. Wer in den Protesten einen „Türkischen Frühling“ sieht und damit auf die Geschehnisse in Ägypten, Tunesien und Libyen anspielt, hat schlicht keine Ahnung. Die Lage in der Türkei ist eine völlig andere als in den anderen Ländern.
Ich möchte vor einem einfachen Freund (Kemalisten) — Feind (AKP) — Schema warnen, wie es in Deutschland so gerne gepflegt wird. Die Fixierung auf die sechs Staatsprinzipien seitens der Kemalisten führt in der heutigen Türkei zu einer absurden Situation. Die Kemalisten zu Lebzeiten Atatürks waren sehr westlich ausgerichtet und führten die Türkei erfolgreich in die Moderne. Außerdem schafften sie es, in einem muslimischen Land Staat und Religion zu trennen und die Scharia als Rechtsgrundlage abzuschaffen. Die Enkel dieser Kemalisten stecken hingegen teilweise ideologisch immer noch in den 30ern fest, weshalb sie jetzt mehrheitlich auch Gegner einer Westintegration sind. Die Enkel der Traditionalisten (AKP) dagegen, die zu Zeiten Atatürks gegen die Reformen opponierten, sind nun starke Befürworter einer solchen.
Nehmen wir nun alle beschriebenen Punkte zusammen, dann lässt sich feststellen, dass beide Seiten jeweils Standpunkte vertreten, die wir aus deutscher Perspektive gewöhnlich als gut oder schlecht empfinden. Deshalb funktioniert das Freund-Feind-Schema, welches fleißig bemüht wird, eigentlich nicht.
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