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Gedanken und Ideen werden immer erst dann fruchtbar, wenn sie aufgegriffen und weiter getragen werden. Die sozialen Netzwerke im Internet sind dafür ein gutes Instrument. Man teilt, bewegt und diskutiert. Das ist natürlich nichts Neues, denn in den realen, herkömmlichen sozialen Netzwerken geschah und geschieht nichts anderes. Facebook und Stammtisch unterscheiden sich nur geringfügig. Wenn sich beide Sphären ergänzen, dann wäre das ideal. Eine solche Überschneidung sollte dann stattfinden, wenn man Gedanken der einen Welt in die andere trägt. Das gilt auch für Zeitschriften aus dem Printbereich. Die nachhaltigsten Gedankenanstöße kommen indes oft nicht von den Mainstreammedien, die allenthalben das „Ende der Qualitätsmedien“ beklagen (das am Ende nur ein Ende der öden Langeweile darstellt), sondern von den kleinen Projekten. Universitas, aus dem „Heidelberger Lese und Zeiten Verlag“, ist so eines. In der Novemberausgabe der Monatsschrift war (unter anderem) ein lesenswertes Interview mit der deutsch-türkischen Rechtsanwältin Sibel Yüksel zu lesen.
Die Anwältin ist seit zwölf Jahren schwerpunktmäßig im Familienrecht tätig und hat sich auf „Scheidungen mit Auslandsbezug“ spezialisiert. Sie übernimmt aber auch andere so genannte Familiensachen wie elterliches Sorgerecht, Vaterschaftsanfechtungen und Vermögensauseinandersetzungen. Etwa 40 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} ihrer Mandanten sind Migranten, und in dem lesenswerten Gespräch in der Zeitschrift ergeben sich dadurch interessante Einsichten und Beobachtungen, von denen einige hiermit auch den Weg ins Internet finden mögen. Da geht es etwa um die Frage des Scheidungsrechts. Von vielen Medien transportiert und bis in die Anti-Islam-Szene dankbar aufgegriffen, ist die Frage nach der Rechtsordnung. Die Kritik: In Deutschland werde bald die Scharia eingeführt werden. Der Hintergrund, so erfährt der Leser des Interviews, ist die „Rom III Verordnung“ die regelt, welches Recht bei Scheidungen anzuwenden ist, wenn die Partner aus zwei verschiedenen Nationen oder beide aus anderen Rechtsordnungen stammen und nun in Deutschland leben.
Dass die Partner jetzt eine Rechtswahl treffen können, kann und sollte man diskutieren. Kann es innerhalb eines Landes divergierende Rechtsordnungen geben? Und gibt es die, neben dem staatlich sanktionierten Rechtsbereich im täglichen Leben nicht ohnedies? Oder verfährt man streng nach den fest geschriebenen Buchstaben des Gesetzes? Inwieweit ist eine Rechtsordnung nicht am Ende ein Konstrukt, das sich mit den kulturellen Lebenswirklichkeiten verändert? Es sind diese Fragen, die diskutiert werden müssten, statt platte Parolen in die eine oder andere Richtung abzusondern. Entscheidend erscheint der Hinweis Yüksels, dass diese Rechtswahl dort aktuell ihre Begrenzung findet, wo sie „fundamental gegen inländisches Recht“ verstoße. Im Übrigen treffe es nicht zu, so die Anwältin, dass das Recht in islamischen Ländern mit dem Koran stets kongruent sei. Das türkische Familienrecht sei beispielsweise 1926 aus der Schweiz übernommen worden und liberaler als das deutsche. Wichtiger als die konfrontative Auseinandersetzung des DIE oder WIR, wäre die lebendige Auseinandersetzung nach den Grundwerten unserer Rechtsordnung – und zwar mit allen Beteiligten.
Sibel Yüksel rät in dem Interview jedenfalls zur Besonnenheit. Skandalisierte Themen, wie etwa die Zwangsheirat oder Gewalt in der Familie seien durchaus wirksam durch die bestehende Rechtsordnung limitiert: „Die Gesetze sind ausreichend. Mord, Körperverletzung, Zwangsverheiratungen sind strafbar. Verhindern können wir diese ungeachtet dessen nicht immer. Ich mag es nicht, dass immer dann, wenn etwas passiert ist, von der Politik populistisch nach mehr Gesetzen und höheren Strafen gerufen wird.“ Ob das subjektive Empfinden, dass der Rechtsstaat seine Bürger vor Kriminalität tatsächlich zu wenig schützt, tatsächlich stimmt, dazu würde man gern einmal leidenschaftslose Zahlen und Fakten hören. Dass sich Straftäter, so wie gerade erst wieder in Berlin, trotz schwerer Delikte bald wieder im öffentlichen Raum tummeln können, verunsichert die Menschen jedenfalls. Auf eine schiefe Wahrnehmung weist die Anwältin am Ende des Gespräches hin. Das Thema Ausländerkriminalität würde aus einem schiefen Blickwinkel betrachtet werden: „Rein prozentual betrachtet, liegt die Kriminalität bei Ausländern höher als bei Deutschen. Wenn Sie sich aber anschauen, aus welcher Bildungsschicht die ausländischen Täter kommen und dann in Bezug setzen zur Bildungsschicht, aus der der deutschen Straftäter kommen, sehen Sie kaum noch Unterschiede.“
Dieser Gedanke kann weder die extreme Rechte, noch die etablierte, bürgerliche und linke Politik freuen. Die einen sehen sich um ihr lieb gewordenes Vorurteil gebracht. Die anderen müssen zugeben, dass sie in einem zentralen Punkt ihrer Verantwortung versagt haben. Denn Integration geht nur mit Bildung. Und für die Bedingungen der Bildung ist die Politik verantwortlich.