Jahrzehntelang waren sie in Deutschland die „Türken“ und in der Türkei die „Deutschländer“: Abkömmlinge der einst aus der Türkei nach Deutschland zugewanderten Gastarbeiter waren somit einer gewissen Identitätslosigkeit ausgesetzt. Doch dieser Zustand scheint nun allmählich sein Ende zu finden. Die aktuelle Generation der Deutschtürken entwickelt derzeit ein bislang unbekanntes Selbstbewusstsein – und eine neue Identität.

Das internationale Ansehen einer Bevölkerungsgruppe steht immer in engem Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Erfolg des Herkunftslandes. So ist es nicht verwunderlich, dass Deutschtürken vor allem in den letzten Jahren mit einem gewissen Stolz das rasante Wachstum in türkischen Großstädten und im gesamten Heimatland ihrer Eltern und Großeltern verfolgen. Hinzu kommt ein neuartiges Interesse der internationalen Presse an der türkischen Außenpolitik. Nicht zuletzt hat der türkische Premierminister Erdoğan, der durch seine populistischen Ausfälle schon mehrmals großes Aufsehen erregt hat, hierzu beigetragen. Die türkische Führung hat sich im letzten Jahrzehnt als Vermittler zwischen dem Westen und der islamischen Welt bewiesen und zugleich in der Rolle des starken Vertreters muslimischer Interessen auf internationalem Parkett hohes Ansehen in den islamischen Ländern erhalten. Dies sind zwei Aufgaben, die sich nicht immer ohne Reibungen parallel bewältigen lassen.

Doch wie viel haben Deutschtürken mit alledem zu tun? Eine gewisse kulturelle Bindung zur Türkei ist allgegenwärtig. Durch die große Anzahl an türkischstämmigen Menschen in Deutschland wird diese Bindung massiv verstärkt. Ganze Stadtteile hierzulande sind geprägt von einer eigenen Kultur, die ihren Ursprung zwar in der Türkei hat, jedoch über die Jahre hinweg ihre eigenen Aspekte und Besonderheiten entwickelt hat. So fallen deutschtürkische Jugendliche in der Türkei auf durch ihre eigenartigen Verhaltensweisen und ihren typischen Kleidungsstil sowie ihre Artikulation der türkischen Sprache. Letzteres hat sogar schon fast den Charakter eines eigenen Dialekts.

Zudem sind die meisten Türken der ersten Generation als Gastarbeiter nach Deutschland gekommen. Von Menschen aus anderen Ländern, aus denen große politische Flüchtlingsströme nach Deutschland stattgefunden haben, unterscheidet sich der Großteil der Deutschtürken somit ganz einfach darin, dass die erste Generation in Deutschland gar nicht das Endziel ihrer Reise gesehen hatte. Deutschland war zumeist nur das Sprungbrett in eine bessere finanzielle Lage und die Chance darauf, im Alter ein besseres Leben in der eigentlichen Heimat genießen zu können. Diese Mentalität und die daraus entstandene kulturelle Verbundenheit zum Heimatland werden oftmals unterbewusst an die Nachkommen weitergegeben. Vielerorts werden in Deutschland noch Teile einer jahrzehntealten Kultur ausgelebt, die in der Heimatregion in dieser Form gar nicht mehr vorzufinden sind.

Diskussionen über ein Wahlrecht für im Ausland lebende türkische Staatsbürger bei türkischen Parlamentswahlen und hochrangige türkische Politiker, die neuerdings neben allen türkischen Großstädten auch in Europa Wahlkampf machen, haben die Verbundenheit der Deutschtürken zur Türkei noch weiter bekräftigt. Auch ist es für Deutschtürken relativ neu, dass ein türkischer Premierminister nach Deutschland reist, um sie zu besuchen. Sicherlich ist auch dies als ein Teil seines innenpolitischen Wahlkampfes zu bewerten und sein Interesse für die Belange dieser Menschen eher fraglich. Die Herzen vieler Deutschtürken hat Erdoğan dennoch schon längst für seine Politik gewonnen – und ihre Verbundenheit zur Türkei auch bereits mit offenen Worten unterstützt.

Hitzige Debatten darüber, inwiefern dies einen Nutzen oder einen Schaden für die Integration dieser Menschen in Deutschland verursacht, haben nach jedem Besuch Erdoğans stattgefunden. Fest steht, dass sich Deutschtürken über ihren Lebensmittelpunkt bewusst sein müssen und darüber, welcher Kultur sie eigentlich angehören. Es ist sehr wichtig, sich von keinem falschen Patriotismus leiten zu lassen. Natürlich sollen sie stolz auf ihre Herkunft sein und dadurch ein gesundes Selbstbewusstsein in sich tragen. Doch in erster Linie wird ihr Leben, auch in Zukunft, von den Entwicklungen in Deutschland beeinflusst werden – zweitrangig vielleicht auch von den Entwicklungen in der Türkei. Sie sind weder komplett deutsch noch komplett türkisch, sondern eben Deutschtürken.

Sehr relevant ist es in diesem Zusammenhang, eine doppelte, deutschtürkische Staatsbürgerschaft endlich zu ermöglichen. Führende Parteien haben in den  vergangenen Jahrzehnten mit diesem Thema Wahlkampf gemacht und dafür die starke Unterstützung von Deutschtürken geerntet. Nun sind diese Parteien in einer klaren Bringschuld, denn sonst wird das ohnehin schon beschädigte Vertrauen der Bürger aus der betroffenen Bevölkerungsgruppe in die Glaubwürdigkeit deutscher Integrationspolitik sogar noch stärker abnehmen. Hinzu kommt, dass die politische Partizipation von Einwanderern in Deutschland jahrzehntelang auf Integrationsräte begrenzt war. Menschen, die keine ausreichende politische Repräsentation in Deutschland haben, suchen sich diese selbstverständlich in einem anderen Land. Die aktuelle Diskussion über ein Kommunalwahlrecht für in Deutschland lebende Nicht-EU-Bürger ist absolut wichtig und hat in den vergangenen Jahrzehnten bereits etliche Male stattgefunden. Deutliche Schritte in Richtung einer politischen Inklusion dieser Menschen, zumindest auf kommunaler Ebene, sind schon längst überfällig. Statt Erdoğan vorzuwerfen, er würde die Deutschtürken für seine eigenen Ziele benutzen, sollten wir uns selbst vorwerfen, ihm überhaupt jemals ein Forum dazu geboten zu haben! Es ist an der Zeit, mehr Energie in die Beseitigung gewisser Missstände zu investieren als in die Empörung über die Worte eines türkischen Premierministers.

Zudem verlangt eine gesamtgesellschaftliche Partizipation eines jeden Individuums in Deutschland eine republikübergreifende Kultur. Diese Kultur wird sicherlich zu einem gewissen Anteil von den zugewanderten Menschen mit beeinflusst. Die Dönertasche in der uns bekannten Form ist eine deutschtürkische Erfindung! Zudem ist diese Erfindung absolut erfolgreich im Ausland – neuerdings auch in der Türkei!

Zur Wahrung des gesamtdeutschen Wohls gilt es, existierende Potenziale aktiv auszuschöpfen. So viele deutsche Bürger, die sich nicht nur in Deutschland, sondern auch in einem zweiten Land sehr gut zurechtfinden können, sind in einer zunehmend globalen Welt von absolutem Vorteil! In Deutschland tun wir uns leider immer noch schwer damit, diesen Zusammenhang zu begreifen. Dies gilt nicht nur im Bezug auf Deutschtürken, sondern genauso für Abkömmlinge vieler anderer Völker. Während wirtschaftlich führende Staaten ihre Einwanderer zum eigenen Profit nutzen, schlagen wir uns in Deutschland die Köpfe darüber ein, ob wir denn nun ein Einwanderungsland sind oder nicht. Viel schlimmer noch: Aus Deutschland findet aktuell eine Nettoauswanderung in die Türkei statt – und es gehen vor allem hochqualifizierte Fachkräfte! Warum sich diese Menschen in der Türkei wohler  fühlen als in Deutschland? Dies ist eine Frage, mit der sich die deutsche Politik intensiv auseinandersetzen muss.

Sehr akribisch hat sich die deutsche Politik bislang übrigens mit der 2011 aufgedeckten NSU-Mordserie auseinandergesetzt. Wir scheinen uns nun endlich einer angebrachten Sensibilität und ernstgemeinten Besorgnis bezüglich der vom Rechtsextremismus ausgehenden Gefahr zu nähern. Viele gewissenhafte Deutsche, und zwar nicht zuletzt solche mit einem sogenannten „Migrationshintergrund“, haben gemeinsam dazu beigetragen – so furchtbar die Hintergründe der Mordserie auch sind – eine Atmosphäre des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu kreieren. Politiker, Juristen, Reporter und viele mehr werden auch in den kommenden Monaten noch Hand in Hand weiter an der Aufdeckung der Einzelheiten arbeiten. Die Wahl des Begriffs „Döner-Morde“ zum Unwort des Jahres 2011 war in diesem Zusammenhang ein Attest für die noch mangelnde Sensibilität innerhalb der Gesellschaft sowie die geeignete schallende Ohrfeige für Teile der Presse; aber eben auch ein weiterer Ausdruck unserer zunehmenden Vernunft. Ein ähnliches gemeinschaftliches Engagement ist in vielen weiteren Bereichen absolut wünschenswert!

Für die Zukunft unserer gemeinsamen Heimat gilt es, immer noch existierende kulturelle Barrieren aufzuheben. Viel zu groß sind die Chancen, die wir uns sonst verbauen würden. Sicherlich sind wir stolz auf eine positive Entwicklung im Heimatland unserer Eltern, doch dazu beigetragen haben wir eher wenig. Noch stolzer könnten wir allerdings darauf sein, wenn wir es schon bald verwirklichen würden, dass jedes in Deutschland geborene Kind aus einer ausländischstämmigen Familie auf die Frage nach seinem Heimatland selbstbewusst und selbstverständlich mit „Deutschland“ antwortet.

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1989 in Hamm geboren und in Bochum aufgewachsen. Die Eltern stammen aus der türkischen Schwarzmeerküste. Hat seine schulische Ausbildung zum Teil in den USA im Austauschjahr absolviert. Seit Oktober 2008 ist er Student der Humanmedizin an der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Vorstandsvorsitzender des IBC – International Business Club e.V. aus Gelsenkirchen.

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