Foto: Zaman-Online
Am 17. April 2013 beginnt einer der wichtigsten und brisantesten Gerichtsprozesse der deutschen Nachkriegszeit. Es geht um den Mord an zehn Menschen, darunter acht Türken, einen Griechen sowie einer deutschen Polizeikommissarin. Bei diesem Prozess steht Deutschland national wie international unter besonderer Beobachtung. Das, was oftmals euphemistisch als „Versagen der Sicherheitsbehörden“ bezeichnet wird, lenkt in den nächsten Wochen auch die Blicke der Welt nach Deutschland. Diese historische Gerichtsverhandlung ist zugleich eine Chance. Eine einmalige Chance, verlorengegangenes Vertrauen in die Sicherheitsdienste, in die Politik und den Rechtsstaat wiederherzustellen. Es geht, daran gibt es keinen Zweifel, auch darum, etwas wiedergutzumachen. Die Mentalität einiger leitender Juristen jedoch scheint wohl „Angriff ist die beste Verteidigung“ zu lauten. Beobachter vermuten zudem, dass eine „Einmischung“ der Türkei mit allen Mitteln verhindert werden soll. Wie ist es sonst zu erklären, dass dem türkischen Botschafter in Deutschland, Hüseyin Avni Karslıoğlu, und dem Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament, Ayhan Sefer Üstün, bereits vor einigen Wochen ein fester Platz als Beobachter im Gerichtssaal verwehrt worden waren?
Dieselben Verantwortlichen haben nun türkische Medienvertreter und Nachrichtenagenturen abgewiesen. Dafür stehen gleich sieben öffentlich-rechtliche Medien auf der Liste: „Bayerischer Rundfunk (BR)“, „Deutschlandradio“, „Norddeutscher Rundfunk (NDR)“, „Südwest Rundfunk (SWR)“, „Mitteldeutscher Rundfunk (MDR)“, „Westdeutscher Rundfunk (WDR)“, „Zweites Deutsches Fernsehen (ZDF)“. Überdies sind kleine Lokalradios wie „Radio Arabella“ oder die „Bayerische Lokal – Radioprogramme (BLR)“ sowie viele freie Journalisten auf den begehrten 50 Plätzen der ersten Akkreditierungsliste, wie die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Karfreitagsausgabe bekanntgab. Die türkischen Medienvertreter, die sich um einen Platz beworben hatten, lauten: Nachrichtenagentur Anadolu (AA), Nachrichtenagentur Cihan, Tageszeitung „Hürriyet“, Nachrichtenagentur „İhlas“, Tageszeitung „Sabah“, Tageszeitung „Türkiye“ sowie die Tageszeitung „Zaman“. Kein einziger türkischer Journalist wurde jedoch auf die erste Akkreditierungsliste aufgenommen, erst auf der Ersatzliste (Platz 62) wurde das erste türkische Medienunternehmen bedacht.
Das heißt im Klartext: Türkische Medienvertreter werden gemeinsam mit vielen weiteren namhaften ausländischen Medien keine Sitzplatzreservierung im Gerichtssaal haben. Auch international anerkannte Medienvertreter wie „Agence France Press (AFP)“, „Al Jazeera“, „Associated Press (AP)“, „Neue Züricher Zeitung (NZZ)“ oder die „New York Times“ zählen dazu. Sie alle können sich kein eigenes Bild von der Verhandlung machen und wären lediglich auf die Berichte ihrer mehrheitlich deutschen Kollegen angewiesen. Der ehemalige türkischstämmige SPD-Europaabgeordnete Ozan Ceyhun bezeichnet die Ereignisse im Berliner „Tagesspiegel“ als „Schande“. Hakkı Keskin, ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, geht dagegen noch weiter. In der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) wirft er „Teilen der Gesellschaft, Politik und Justiz“ nicht nur fehlende Sensibilität, sondern eine bewusste Ignoranz und Diskriminierung vor. „Welt-Online“ bringt es auf den Punkt und titelt: „NSU-Akkreditierungsliste wird zur Blamage“.
Deutsche Medien mit Stammplätzen bei Marco-Weiss-Prozess
Die Akkreditierungsbestimmungen waren ausbaufähig, um nicht zu sagen: suboptimal. Bei der Akkreditierung muss es um Minuten, wenn nicht gar um Sekunden gegangen sein – als würde es um ein angesagtes Rockkonzert gehen. Denn zahlreiche türkische Medienschaffende, wie etwa Celal Özcan von der Tageszeitung „Hürriyet“, berichten, sie hätten sich am Tag der Akkreditierungszulassung eingetragen. Die 50 Plätze seien bereits nach wenigen Stunden voll gewesen. Aber es gibt auch Beispiele dafür, dass es anders geht. Bei dem Wettermoderator Jörg Kachelmann oder dem damaligen Angeklagten Marco Weiss, der 2007 verdächtigt wurde, in der Türkei ein Mädchen missbraucht zu haben, wurde das Herkunftsprinzip bei Journalisten angewandt. Bei Kachelmann haben Schweizer Journalisten aufgrund der ethnischen Herkunft des Wettermoderators ein Kontingent erhalten. Auch bei Marco Weiss durften deutsche Reporter ausgiebig und zum Teil polarisierend über die Gerichtsverhandlung in Antalya berichten.
Dass das Münchner Oberlandesgericht nicht nach ethnischer Zugehörigkeit der Journalisten unterscheidet, ist gewiss ein gutes Zeichen. Aber vor dem Hintergrund, dass es sich bei den Mordopfern mehrheitlich um türkische- oder türkischstämmige Bürger handelt, deutet die Verhaltensweise des Gerichts auf eine Mischung zwischen Provokation und Nervosität hin. Eine souveräne Haltung sieht anders aus. Hier hätten das Gericht und sein Präsident ein wenig mehr Augenmaß, Empathie und Flexibilität an den Tag legen können. Gerade wenn es um Mord und die mögliche Verwicklung von V-Leuten geht, wäre Deeskalation statt Provokation eine weitsichtigere Maßnahme gewesen. Unser Rechtssystem hat ja wohl nichts zu verbergen.
Viele Türkischstämmige, vor allem jüngere Menschen, zweifeln am Respekt der Verantwortlichen vor den Mordopfern und deren Angehörigen. Die Art und Weise, wie mit türkischen Medien umgegangen wird, ist ein Kommunikationsdesaster. Ein Jahrhundertprozess wie dieser hätte nicht unbedingt in einem Saal stattfinden müssen, der nur Platz für insgesamt 250 Menschen, davon allein 50 für Zuschauer und lediglich 50 für Journalisten, bietet. Jedes Hochschulseminar, gerade die juristischen Fakultäten und Hörsäle, hätte Platz für mehr Menschen geboten. Der Prozess um die Seilbahnkatastrophe im österreichischen Kaprun im Jahre 2000 wurde auf Grund des Andrangs an Teilnehmern vom zuständigen Gericht in ein katholisches Veranstaltungszentrum verlegt. Der Prozess gegen Ägyptens Ex-Diktator Mubarak fand in einer zum Gerichtssaal umgebauten Sporthalle statt.
Kommunikationsdesaster der Gerichtsleitung
Die Gerichtsleitung hätte im Vorfeld angesichts der Relevanz des Mordprozesses jedenfalls intensiver sprechen, kommunizieren und beraten müssen. Eine plausible und wohlwollende Lösung wäre bei so einem weltweit beachteten Prozess sicher nicht schwer gefallen. Dies hätte Vertrauen und Transparenz geschaffen. Sturheit und Pedanterie scheinen aber überwogen zu haben. Eine weitere Kommunikationspanne: Auch die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU), die die Entscheidung des Gerichts verteidigt, kommt mit ihren Erklärungsversuchen und Interviews unglücklich rüber.
Nach Informationen der „Süddeutschen Zeitung“ wirft selbst die EU-Kommission dem Gericht vor, „jedes Gespür fehlen zu lassen“ und „suboptimal“ gehandelt zu haben. Die Zeitung zitiert die EU-Justizkommissarin Viviane Reding, die sagt, dass es „das Normalste auf der Welt“ sei, „dass ausländische Medien, erst recht aus Ländern mit Betroffenen“, einem Prozess dieser Art beiwohnen würden. Außerdem meldet sich Nils Muiznieks, der Menschenrechtskommissar des Europarats, zu Wort und lässt verlauten, dass er die Entscheidung des Gerichts kaum verstehe. Fatal für das Vertrauen in deutsche Gerichte und andere Behörden sind auch die Aufmacher türkischer Zeitungen der letzten Tage. Die liberal-nationale „Hürriyet“ titelt: „Türkische Presse nicht erwünscht“ und gleich daneben: „Der Gerichtsprozess beginnt bereits ungerecht“ [„O Mahkeme Daha İlk Gün Adaletsiz Başladı“]. Die „Milliyet“ titelt: „Gerechtigkeit nach deutscher Art“.
Die berühmte Handwaage der Justitia ist von Anfang an in einer Schieflage. Was für ein Bild geben wir mit solchen Vorfällen in der Welt ab? Das ohnehin schon durch die Morde gestörte Vertrauen in Teile der staatlichen Behörden wird durch solche Ereignisse nicht besser. Es dürfte, nach gesundem Menschenverstand, nicht das Ziel staatlicher Einrichtungen sein, die Zuversicht und das Vertrauen in eben diese Einrichtungen und das Rechtsstaatssystem, auf das wir gerade nach dem Zweiten Weltkrieg stolz sein können, zu minimieren. Nicht umsonst schreibt Friedrich Schmidt von der „Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)“, dass das Gericht „jedes Gespür für die menschlichen und politischen Befindlichkeiten“ vermissen lasse. Cemil Şahinöz, Chefredakteur der Zeitschrift „Ayasofya“ und Betreiber der Internetseite „Misawa“, macht jetzt schon “große Zweifel” sowie einen „Nachgeschmack an Ungerechtigkeit” an dem Verfahren aus.
Wie groß war das NSU-Umfeld wirklich?
In diesem Gerichtsprozess geht es um mehr als die Zulassung türkischer Medien zur Verhandlung. Es geht auch darum, Schlampereien bei der Aufklärung der Morde zu benennen. Es geht darum, zu prüfen, ob es stimmt, was Markus Decker im „Kölner-Stadt-Anzeiger (KSTA)“ schreibt, nämlich „dass es eine geistige Nähe zwischen Teilen des Inlandsgeheimdienstes und rechten Kreisen gibt“. Decker schreibt, dass es „Zeitgenossen“ gebe, die dies schon „längst für ausgemacht“ halten würden.
Andreas Förster von der „Frankfurter Rundschau (FR)“ ergänzt, dass ein „über Jahrzehnte gewachsene[s] soziale[s] und politische[s] Beziehungsgeflecht in der rechtsextremen Szene […]“ existiere, das der Zwickauer Zelle Rückhalt geben konnte. Die rechtsextremistische Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“, deren Unterstützer und Helfershelfer bestehen nach letzten Erkenntnissen weder aus drei noch aus 129 Personen, so wie in den letzten Tagen erklärt wurde, sondern sogar noch aus viel mehr Menschen. Förster bezeichnet es als „bemerkenswert“, dass unter den 129 Verdächtigen „acht inzwischen enttarnte V-Leute des Verfassungsschutzes und – in einem Fall – des Berliner Landeskriminalamts auftauchen“. Er geht davon aus, dass „längst nicht alle Spitzel in die Übersicht aufgenommen wurden“ und nennt eine vorsichtige Schätzung von „knapp zwei Dutzend“ V-Leuten, die mit der rechtsextremistischen Terrorbande in Verbindung standen. In einem Interview Eren Güvercins mit dem Anwalt, Publizisten und dem Vizepräsidenten der Internationalen Liga für Menschenrechte, Rolf Gössner, für die „Islamische Zeitung (IZ)“, äußert sich Letzterer über die Arbeitsweise sowie die „Vertuschungsmanöver und Schredderaktionen“ von Teilen der Dienste. Im NSU-Prozess des Münchener Oberlandesgerichts wird auch über diese „Ungereimtheiten“ Aufklärung nötig sein. Auf diese Aufklärung ist nicht nur die türkische Community, sondern ganz Deutschland und die Welt gespannt.
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