Premierminister Erdoğan und die AKP haben in den letzten Monaten versäumt, ihre Politik dem Volk gegenüber ausreichend nachvollziehbar zu machen. Ein Mehr an Bürgerbeteiligung könnte dem entgegensteuern.
Nachdem die türkische Polizei zwei Tage lang Demonstranten in Istanbul, die anfangs gegen den Bau eines Einkaufszentrums protestierten, mit Wasserwerfern und Tränengas bekämpft hatte, wurde aus den friedlichen Aktionen ein Protest gegen die türkische Regierung. Tausende Twitter-User mobilisierten einander wechselseitig mit Tweets wie „Es geht nicht um Bäume, es geht um den Sturz der Regierung“ oder „Wir werden es schaffen“.
Deutsche Medien scheinen derzeit miteinander um die Nummer Eins in Sachen Medienpopulismus zu wetteifern, wenn es um die Innenpolitik der Türkei geht. Titel wie „Türkischer Frühling“ oder „Die Türkei gegen den Sultan“ scheinen zu punkten und besonderes Interesse bei den Lesern zu wecken. Nur schade, dass man sich nicht genug Gedanken darüber macht, dass diese möglicherweise Menschen spalten und unnötig emotionalisieren – möglicherweise ist das ja sogar gewollt. Doch obwohl dies mal angemerkt sein sollte, geht es in diesem Artikel nicht um mediale Ethik und Öffentlichkeitsverantwortung.
Die Mängel in der öffentlichen Diplomatie und die mangelnde Transparenz hinsichtlich des Friedensprozesses in den Kurdengebieten haben beim türkischen Bürger in den letzten fünf Monaten zu Verwirrung und Ärger geführt und sogar Gewalt seitens kleinerer Gruppen auf den Straßen ausgelöst.
Instinktlosigkeit gegenüber den Aleviten
Als die Bombenanschläge in der Grenzstadt Reyhanlı Ängste hinsichtlich eines neuen sunnitisch-alevitischen Konflikts schürten, versuchte Erdoğan „zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen“, wie es die Redewendung besagt. Um einerseits die öffentliche Aufmerksamkeit zu zerstreuen und andererseits seine sunnitisch-konservativen Wähler glücklich zu machen, entwarf seine Partei ein Gesetz zur Einschränkung des Verkaufs alkoholischer Getränke, was wiederum der rationale städtische Wähler, einschließlich der Sunniten, als eine Intervention in seinen privaten Lebensstil wahrnahm.
Fast zwei Wochen diskutierten Politiker, Analysten und Journalisten über den Säkularismus, die Stellung des Islam in der politischen Agenda und die Grenzen seiner Funktion als Entscheidungsfaktor. Kemalisten witterten wieder mal „Scharia“ und „Islamisten an der Macht“ – eine Keule, die insbesondere mit Blick auf pawlowsche Reflexe in einschlägigen westlichen Medien immer wirkt.
Nicht nur das. Eine bahnbrechende Zeremonie für den Bau einer dritten Brücke über den Bosporus fand diese Woche statt, obwohl über ihre Auswirkungen auf die Umwelt unzureichend diskutiert worden war. Der künftigen Brücke wurde der Name des Sultan Selim, des ersten osmanischen Kalifen des 16. Jahrhunderts verliehen, der für seine schiitenfeindliche Politik bekannt war. Durch die Zusammenarbeit einiger alevitischer Gruppierung mit der politischen Schia gerieten auch diese in den Fokus Selims. Die Brücke hätte etwa auch nach Rumi, dem berühmten Denker des Sufismus, benannt werden können, der eine Lehre der universellen Toleranz von Anatolien aus verbreitete, oder nach einem anderen islamischen „Humanisten“. Die tatsächliche Namenswahl sorgte jedoch dafür, dass Aleviten, eine religiöse Gruppe, welche immerhin 10 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} der Bevölkerung stellt und immer noch auf eine offizielle Anerkennung ihrer religiösen Identität wartet, sich in ihrer Identität ignoriert, wenn nicht sogar beleidigt fühlten. Der letzte Schlag kam, als die Bauvorhaben auf dem Taksim-Platz öffentlich bekanntgegeben wurden, ohne dass wirklich eine öffentliche Debatte bzw. Diskussion stattgefunden hätte. Ein gut gemeinter Protest endete in einem ideologischen Desaster. „Ihr könnt machen, was Ihr wollt. Wir haben uns schon entschieden”, sagte Erdoğan einige Tage vor den Protesten zu den Gegnern des Taksim-Umbaus. Ironie des Schicksals: Noch vor wenigen Jahren hatte sich der Premier auf einer Davos-Konferenz mit seinem berühmt gewordenen Zitat „One minute” darüber beschwert, nicht genügend Redezeit gewährt bekommen zu haben, sodass er nicht das sagen konnte, was er wollte.
Kein Zurück zum Autoritarismus der Kemalisten
„Das Land muss sein autoritäres Staatsverständnis überwinden“, schrieb gestern L. Jacobsen in seinem Artikel in der „Zeit“ und offenbarte damit als einer von wenigen deutschen Journalisten Augenmaß. Richtig ist, dass sich das türkische Paradigma „Gesellschaften östlicher Kulturen handeln führerorientiert“ nun langsam in den Köpfen der Menschen selbst ablöst. Möglicherweise ist dies Zeichen eines politischen und kulturellen Aufstiegs der türkischen Gesellschaft, zu der die AKP-Regierung sowohl wirtschafts- als auch bildungspolitisch selbst viel beigetragen hat.
Die Türkei befindet sich nun in einer neuen Ära, in der sich die Regierung angesichts der Dynamiken im Inland hin zu einem neuen Demokratieverständnis bewegen muss; nämlich hin zur partizipativen Demokratie. Analysten behaupten, dass Demokratie nicht auf Dauer funktioniere, wenn Wähler sich nach den Wahlen vier Jahre lang zurücklehnen würden. Menschen wollen sich an öffentlichen Diskursen beteiligen, sie wollen an politischen Entscheidungen teilhaben.
Auf der anderen Seite sollten Kemalisten nun endlich lernen, nüchterner und mit etwas mehr Mäßigung ihre politischen Wünsche gegenüber der Regierung zu äußern. Ideologische Blindheit mit einer Prise Gewalt, Hass und das Einteilen der Gesellschaft in „Ihr“ und „Wir“ schaden dem Zusammenleben und dem gegenseitigen Respekt – zumal man, was autoritäres Staats- und Gesellschaftsverständnis sowie die Verhinderung von Partizipation anbelangt, in diesen Kreisen durchaus Grund zu umfassender Selbstkritik hat. Ideologische Parolen und Slogans wie „Wir sind alle Soldaten Atatürks“ haben in der Türkei des 21. Jahrhundert keine Zukunft.
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