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Wer kennt nicht das Zitat von Max Frisch, „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen Menschen“ aus dem Vorwort seines Buches „Siamo Italiani“? Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg kamen italienische Gastarbeiter in Scharen in die Schweiz, die in der zweiten Einwanderergeneration in dem Alpenland immerhin 54{29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} der Ausländer ausmachten. Inzwischen sind die Kinder dieser Einwanderer schweizerische Staatsbürger und nennen sich „Secondos”, die sich jahrzehntelang im Kampf um das kulturelle Überleben zwischen erzwungener Integration und Assimilation eingeklemmt fühlten.
Auch in Deutschland ebbt die Diskussion über die Integration nie ab, obwohl man sich seit Jahrzehnten sowohl in der Politik als auch auf gesellschaftlicher Ebene kontrovers darüber die Köpfe zerbricht. Integration, Inklusion, Multikulti und soziale Vielfalt sind Begriffe, die immer wieder fallen, wenn es darum geht, die Einwanderer, insbesondere jedoch die Türken und Araber zu „integrieren”, die in einem anderen Kulturkreis aufwachsen als andere Ausländer.
Fragen, die seit Jahrzehnten gestellt werde
Trotz zahlreicher, gelungener Beispiele stellen sich die meisten Einwanderer aus der Türkei und den arabischen Ländern jedoch gegen diese Bemühungen, vor allem auf Grund der Befürchtung, ihre Identität zu verlieren. Bedeutet „Integrieren“ den Verlust der eigenen Identität oder wird dies in bestimmten Kreisen dahingehend propagiert? Verstehen die Einwanderer diese Bemühungen falsch oder wollen die Behörden in Deutschland diesen Menschen doch etwas Ungewolltes aufzwingen? Wie weit darf die Integration gehen? Gibt es eine rote Linie, die von den Einwanderern nicht überschritten werden soll?
Was verstehen wir unter „gesellschaftlicher Teilhabe“? Oder wird der Aufenthalt der Einwanderer, wie es heute so schön heißt, nur „geduldet”? Wann werden sie zu einem Bestandteil der Gesellschaft und mit welchen Werten? Gehört der Islam zu Deutschland und wenn ja, mit welchen seiner Werte? Muss sich diese Einwanderergruppe zugunsten einer Wertgemeinsamkeit aus ihrer kulturellen Identität befreien und sich der „Hoheits- bzw. Leitkultur” dieses Landes fügen? Wie ist der Begriff der sozialen Vielfalt zu verstehen und gibt es gelungene Beispiele hierfür aus der Geschichte? Diese Fragen wurden von verschiedenen Kreisen unterschiedlich beantwortet und dadurch kam man in Deutschland nicht zu einem gemeinsamen Nenner.
Beschreibung der Terminologi
Um des besseren Verständnisses wegen nehmen wir die Terminologie im soziologischen Kontext unter die Lupe.
Der Begriff der Integration wird von Soziologen wie folgt beschrieben: Es ist die Ausbildung einer Wertgemeinsamkeit mit einer Einbeziehung von Gruppierungen, die zunächst oder neuerdings andere Werthaltungen vertreten oder aus verschiedensten anderen Gründen exkludiert waren.
Inklusion dagegen ist die Einbeziehung bislang ausgeschlossener Akteure in Subsysteme, die in der funktional differenzierten Gesellschaft nicht integriert werden können, dafür aber an mehreren Teilsystemen der Gesellschaft partizipieren müssen.
Inklusion: Ohne Beachtung des Hintergrunds hat jedes Individuum das Recht auf Teilhabe in der Gesellschaft. Integration dagegen: Unter Berücksichtigung des Hintergrunds kannst du an der Gesellschaft partizipieren.
Inklusion geht von einer vielfältigen transkulturellen Gesellschaft aus. Integration geht von einer monolithischen Mehrheitsgesellschaft aus.
Inklusion ist ein postmoderner Begriff und Integration gehört zu einer modernen Hoheitskultur. In Deutschland werden seit Jahren mit Ausländergesetzen etc. die rechtlichen Grundlagen für eine Inklusion gelegt.
Integration und Inklusion im Lichte der „Struktur und Kultur
Der Soziologe Hartmut Esser entwickelte dazu in den letzten Jahrzehnten das Begriffsgespann „Struktur und Kultur”. Die Struktur beschreibt die Gesellschaft und die dazu gehörenden Bausteine. Im rechtlichen Zusammenhang gehören beispielsweise die Arbeits-, Wohnungs- und Bildungsmärkte zu der Struktur, an der jeder mit gleichen Rechten seine Teilhabe hat. Doch die Kultur verstand Esser anfangs als eine solche der Assimilation und gewährte dann den Einwanderern die Aufnahme in diese Struktur. Also nur assimilierte Wesen hätten demnach das Recht auf Arbeit und Wohnung. In der Politik verschanzten sich insbesondere konservative Kreise hinter der Assimilation – und das, obwohl konservative Werte in der Mehrheitsgesellschaft immer mehr an Boden verloren -, die sie jedoch nicht offen betonten und viele Freidenker dagegen wehrten sich mit dem Begriff „Multikulti”, um einen politischen Gegensatz in der Parteienlandschaft Deutschlands zu bilden. Die Diskussion hörte nicht auf und Jahre später verbalisierte die politische Sprache die Entwicklungen im Zustand der Einwanderer mit dem Begriff der „Inklusion”.
Nachdem immer mehr Menschen des Wortes „Integration” allmählich überdrüssig geworden waren, klammerten sich seit einigen Jahren viele Menschen in Deutschland an diesen neuen Begriff. Also sollten die Einwanderer ungeachtet ihres kulturellen und sozialen Hintergrunds an der Gesellschaft teilhaben, was jedoch in der Praxis immer noch nicht erreicht ist. Die Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt nehmen bereits Konturen an, die sehr offensichtlich geworden sind. Doch die muslimischen Einwanderer sollten sich nicht vor der Teilhabe an der Gesellschaft scheuen und denken, dass ihre Identität dadurch verloren ginge. Denn auch sie haben dieser Gesellschaft viel zu bieten bezüglich der Zivilisation, die ihre Vorfahren im Goldenen Zeitalter des Islams und zu Zeiten des Osmanischen Reiches bewiesen haben.
Gesellschaftliche Teilhabe in der Geschichte der Osmanen als Beispie
In der Gesellschaft des osmanischen Reiches herrschte neben der soziokulturellen auch die rechtliche Vielfalt. Ein Jude, ein Armenier oder ein Grieche, die alle in dem sogenannten „Millet-System” als „Dhimmis” (Schutzbefohlener) aufgezählt wurden, hatten neben ihren Pflichten auch viele Privilegien. Sie brauchten keinen Wehrdienst abzuleisten und beschäftigten sich hauptsächlich mit Handel. Lediglich zahlten sie ihre Abgaben und Tribute (Dschisye) an das Reich und standen unter der Obhut des Sultans.
Neben der sozialen und wirtschaftlichen Teilhabe waren sie auch gleichgestellt hinsichtlich des Wahlrechts, welche Jurisprudenz sie in Anspruch nehmen wollten. Sie entschieden selbst, welches Gericht sie aufsuchten. Neben den Reichsgerichten (Gerichte der Scheriyye) mit den Kadis und den Schultheißen suchten sie auch bei ihrer eigenen Judikative nach ihrem Recht. Im Gegensatz dazu ist eine eigenständige Jurisprudenz und die rechtliche Vielfalt für Einwanderer in Deutschland ein Tabuthema, das ich auch weiterhin nicht anschneiden möchte.
Weitere Beispiele für soziale Vielfalt
Die fehlende Akzeptanzbereitschaft der soziokulturellen Mehrheit führte in Deutschland zu Problemen. Einige Länder nahmen das Modell im Osmanischen Reich zum Vorbild und versuchten eine ähnliche gesellschaftliche Struktur aufzustellen. Das kanadische Beispiel mit der „unity within diversity” stammt ursprünglich aus dem osmanischen System.
Man darf auch nicht aus den Augen verlieren, dass die Vielfalt den sozialen Zustand in einer Gesellschaft eher „beschreibt” und Begriffe wie Integration und Inklusion dagegen nur „bewerten” und daher auch Begriffe ideologischer Natur sind. In modernen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts reicht der Begriff der Integration nicht mehr aus, um das soziale Leben zu verstehen.
Nicht umsonst spricht man heutzutage unter anderem im Schulwesen vom Übergang „von der integrativen zur inklusiven Bildung“. Doch der Zwischenstatus „Inklusion” sagt nicht viel über die „Vielfalt” in den Schulen aus.
Quintessenz: Der Einwanderer aus der Türkei muss seine kulturellen Werte ausleben können und wird mit seinen Werten, zu denen er steht, in der deutschen Gesellschaft angenommen werden. Es reicht lediglich, wenn die Betrachtungsweise sowohl aus der Sicht der Einwanderer als auch aus jener der Einheimischen geändert werden können. Denn mit den Begriffen „Integration“, „Migrant” oder ähnlichem wird nur auf den Hintergrund dieser Menschen hingedeutet, womit wir keinen Schritt vorankommen.
Diese Einstellung verhindert sogar die Inklusion, geschweige denn die Vielfalt. Dem deutschen Nachbarn eines türkischen Einwanderers sollte klar sein, dass sein Nachbar viele soziale Stadien hinter sich bringen musste, um seine Identität in dieser Gesellschaft zu finden. Vor 50 Jahren hieß es „Gastarbeiter”. Dann tendierten die Einheimischen zu dem Begriff der „Ausländer”. Heutzutage heißt es „Migrant”. Wer begriffen hat, dass diese Menschen gekommen sind, um zu bleiben, spricht von „Einwanderern“. Nach 50 Jahren sollten die Menschen, die eine gelungene Integration bereits hinter sich gebracht haben, wenigstens als Mitbürger oder Mitmenschen betrachtet werden, die mit ihrer Vielfalt und Bereicherung unsere Gesellschaft aufwerten ohne auf ihren soziokulturellen Hintergrund zu schauen.