Der „Kranke Mann am Bosporus“ ist wieder da. Er erlebt sein Comeback im Kreis der Kranken. Nur leidet er diesmal an einer psychischen Krankheit. Der Mann am Bosporus ist geisteskrank und müsste alsbald in die nächste Irrenanstalt eingewiesen werden. Der Zustand ist kritisch und es könnte schon sehr bald zu einer Gefährdung seiner selbst oder seines Umfelds kommen. Die Experten sind aufgerufen, die nötigen Schritte einzuleiten.

Sie fragen, warum es eine Geisteskrankheit ist? Wir haben es mit multiplen Psychosen vom Feinsten zu tun. „Äußere Mächte“ seien in Intrigen verwickelt, sagt der kranke Mann. Selbst einst engste Freunde sind vor den Beschuldigungen nicht sicher. Und weiter noch: Er leidet an einer gespaltenen Persönlichkeit. An multiplen gespaltenen Persönlichkeiten! Konservativ, ja! Aber wie? Liberal-konservativ, wirtschaftskonservativ, religiös-konservativ, kemalistisch-konservativ, nationalistisch-konservativ, … und modern, auch! Naturbewegungs-modern, wirtschaftsmodern, kemalistisch-modern (was auch immer das sein soll!).

Kurz und knapp: Die Türkei steckt tief im Sumpf. Im Sumpf der Zwiespältigkeiten und Kontroversen. Zuletzt haben sich sogar einst ewig treu geglaubte Weggefährten in die Haare gekriegt. Die Anhänger Fethullah Gülens tauschen mit denen der AKP massenhaft gegenseitige Anschuldigungen und Drohungen aus.

Der Weg aus diesem Sumpf heraus scheint derzeit schwer. Was jedoch noch viel wichtiger ist: Dieser Weg ist mehr als notwendig. Er ist längst überfällig! Denn dies ist kein Sumpf, der vom heiteren Himmel gefallen ist. Die massive Spaltung der türkischen Gesellschaft existiert schon lange und wurde immer schlimmer. Und das Land sank immer tiefer in diesen Sumpf hinein. Doch allmählich merken die oberen Teile der Gesellschaft nicht nur, wie leicht man in diesem Sumpf versinken kann, sie merken auch, wie viele unter ihnen bereits darin erstickt sind. Der Sumpf wird also für alle sichtbar.

Was, Korrupt? Doch nicht die Türkei!?

Plötzlich zeigen sich bestimmte Kreise extrem verblüfft beim Anblick von Korruptionsskandalen – als hätte es in diesem Land noch nie zuvor den Schimmer einer Korruption gegeben. Und da wären wir wieder bei den Psychosen. Machen wir uns doch nichts vor! So klar wie die Kloßbrühe ist, so weiß waren und sind auch die Westen türkischer Politiker – und zwar gar nicht.

Der Ministerpräsident spricht in diesen Tagen mal wieder von „äußeren Mächten“, die vieles im Land kontrollieren. Eine weitreichende Analyse darüber, ob dies stimmt, trau ich mir selbst ehrlich gesagt nicht zu. Es stellt sich doch aber zumindest die Frage: Wenn die äußeren Mächte so mächtig sind, wie kam dieser Ministerpräsident dann dahin, wo er heute ist? In den letzten Tagen kann man etwas ganz Interessantes beobachten: Die gleichen Menschen, die mich jahrelang versucht haben, davon zu überzeugen, dass Erdoğan souverän sei und einzig und allein für das türkische Volk arbeite, versuchen nun, mich davon zu überzeugen, dass er jetzt versuche, sich von äußeren Mächten unabhängig zu machen. Das Zweite kaufe ich den Leuten sogar ab!

Doch fehlt es nicht nur dem türkischen Premierminister an Souveränität. Es fehlt vor allem der türkischen Bevölkerung eine ordentliche zivilgesellschaftliche Kultur. Bis dato wurden nur Teams angefeuert und Logos hochgehalten. Jegliche Ideologie wurde schnell zur Farce. Die ersten Unterstützer der AKP mögen vielleicht ein muslimisch-konservatives Ideal verfolgt haben, welches auch mit den modernen Herausforderungen der Globalisierung mithalten kann. Jedoch wurde auch diese „Idee“ relativ schnell heruntergekürzt auf eine Glühbirne. Und wie in den Jahrzehnten zuvor den „sechs Pfeilen“, der „weißen Taube“ oder den „drei Halbmonden“, hat sich der größte Teil der türkischen Bevölkerung in den letzten Jahren eben diesmal in die Wahlkabinen gequetscht, um dem „Ak“, also „dem Hellen“, „der Erleuchtung“, „der grellen Glühbirne“ ihr Kreuz zu schenken. Die Türken sind ein Volk der Symbolliebenden und Symboltreuen. Wenn wir nur im gleichen Maße unseren eigenen Idealen treu wären, wären wir nicht in diesem Dilemma.

Dabei sind es so ehrwürdige Ideale. Untreue und Unehrlichkeit gelten unter Türken fast als Todsünden. Mit Lügnern ist man nicht gern im selben Raum. Mit Leuten, die Recht und Anteil eines Anderen für sich selbst beanspruchen, erst Recht nicht. Wenn der Benachteiligte auch noch arm und bedürftig ist, grüßt man den, der ihm Unrecht tut, noch nicht einmal. Und wer Türken kennt, der weiß, wie beleidigend es ist, wenn man jemanden nicht grüßt.

Jeder gibt seinen Senf dazu

Doch in der Politik scheinen all diese Ideale keinen Wert zu haben. Die gesamte Bevölkerung scheint gelähmt vor der Gewissheit, dass Lug und Trug, Intrigen und Korruption einfach in die türkische Politik gehören wie der kleine Löffel ins türkische Teeglas. Und wenn der eine Betrüger es zu weit treibt, dann wählt man eben den Nächsten. Denn Betrüger gibt es in unserem schönen Land genug. Wenn die aktuelle Regierung tatsächlich seit einem Jahrzehnt Korruption und Vetternwirtschaft in diesem Land betreibt, dann ist daran eben auch die Opposition schuld, die keine vernünftige Alternative bietet. Denn einerseits reduziert sie ihre Arbeit weitestgehend auf Pöbeleien in- und außerhalb des Parlaments und andererseits haben große Teile der Opposition jahrzehntelang nichts anderes gemacht als eben das, wessen sie die Regierung jetzt beschuldigen. Nur ein Räuber erkennt einen Räuber.

Wie sehr ich doch eine vernünftige türkische Zivilgesellschaft vermisse. Wobei, wenn ich zurückdenke, kann ich mich nicht wirklich daran erinnern, dass es jemals eine gegeben hätte. Solange ich mich selbst kenne, wird die türkische Zivilgesellschaft getrieben von Skandalen eines Ausmaßes, von dem Hollywood nur träumen kann. Im Türkischen gibt es ein Sprichwort: „Ağzı olan konuşuyor!“ – „Jeder, der einen Mund hat, spricht!“. Und das ist ausnahmsweise mal ein Sprichwort, welches man wortwörtlich nehmen kann! Man hat den Eindruck, wirklich JEDER Türke hätte etwas zur aktuellen Regierungskrise zu sagen (selbst Euer liebgewonnener besorgter Deutschtürke). Das wäre an und für sich ja erfreulich, wenn sich die Leute aber nur auch mal ein kleines Bisschen informieren würden. Ein Staatsanwalt, der Ermittlungen gegen Regierungskreise führt, wird vom Fall zurückgezogen, und urplötzlich werden alle Türken zu Experten der Rechtswissenschaften. Kaum einer hört sich mal den Vorgesetzen an, der diesem Staatsanwalt den Fall entzog und fünf anderen Staatsanwälten überließ.

Flache Symbolpolitik

Noch ein Beispiel: Im Istanbuler „Gezi-Park“ wird gegen Abholzung demonstriert, und urplötzlich mutieren alle Türken zu Forstwissenschaftlern und Botanik-Experten. Während die Einen mit Google Maps Bildern pseudowissenschaftlich untersuchen, wie sich bestimmte Landschaften seit 2007 verändern haben, zählen die Anderen die Milliarden von Sprösslingen, die die aktuelle Regierung gepflanzt hat – und man bekommt den Eindruck, Erdoğan hätte sie alle eigenhändig eingepflanzt.

Und wenn dieser danach vor den Massen seine vier Finger in die Höhe ragt, anscheinend zu schwach, auch den Daumen zu heben, greifen die Türken auch dieses Symbol wieder auf und brüllen „R4bia“ – was auch immer das heißt. Spaß beiseite… Natürlich weiß ich, was dieses Ger4abia soll. Nur glaube ich leider nicht, dass auch all diejenigen es wissen, die da mitmachen. Wochenlang war die schwarze Hand auf gelbem Hintergrund auf meinem Computerbildschirm eingebrannt. Noch so ein Hype, den ich nicht verstehe: Mittels Profilbildern die Welt verändern. Wenn man einem symbolsüchtigen Volk den Zugang zum Internet gewährt, bekommt man eben ein wütendes Rudel von Internetaktivisten.

Über Schimpfwörter einer Art, deren auch nur scherzhafter Verwendung ich mich sogar in Anwesenheit meiner engsten Freunde schäme, geht der Intellekt dieser Menschen viel zu oft leider nicht hinaus.

Macht es doch endlich mal richtig!

Eine vernünftige Zivilgesellschaft ist etwas anderes.

Ich sage nicht, dass Ihr keine Solidarität mit R4bia zeigen sollt. Aber wenn Ihr es unbedingt machen wollt, macht es richtig! Informiert Euch und findet heraus, worum es wirklich geht!

Ich sage auch nicht, dass Ihr den Umweltschutz nicht unterstützen sollt. Aber wenn jeder Gezi-Aktivist für jeden Tag, an dem er stundenlang am Taksim-Platz kampierte, nur einen Baum gepflanzt hätte, sähe Istanbul heute ganz anders aus.

Ich sage auch nicht, dass Ihr keine Flaggen und Symbole hochhalten sollt. Macht es im Stadion! Feuert nicht Eure Politiker, sondern Eure Fußballer an!

Denn demokratische Entscheidungen werden nicht nach dem Willen derer getroffen, die am lautesten brüllen. Sie werden im Parlament getroffen und über die Zusammensetzung des Parlaments entscheiden die Wähler im Wahllokal.

Und es entscheidet auch nicht derjenige, der am überzeugendsten seine Handlungen mit Versen aus dem Koran stützt.

„A little less conversation, a little more action, please!”, würde Elvis sagen. Ich sage: „Aklınızı başınıza alın!“. Das haben jetzt die verstanden, die es verstehen sollen.

Ich wünsche ein Happy New Year,

mit einem Happy New Hükümet.

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