Nichts ist offenbar so schön wie ein wohliger Kulturpessimismus. Untergangsszenarien. Warnungen. Der Wald stirbt, das Klima erwärmt sich. Und natürlich werden wir auch immer „dömmer“. Das Symbolbild zum Thema Pisa-Test für Erwachsene bei Focus-Online ist beispielhaft. Eine entsetzte junge Frau vor ihrem aufgeklappten Laptop. Bildunterschrift: „Deutsche Erwachsene schneiden in der Pisa-Studie durchschnittlich ab.“ Und weil Durchschnitt noch zu harmlos klingt, verrät die Überschrift: „Jeder fünfte Deutsche rechnet wie ein Grundschüler.“ Man schmunzelt und möchte sich gleich in eine Straßenumfrage begeben. Mit der Frage: Wie viel Prozent könnten das sein?!

Da haben wir es also nun wieder einmal. So genannte Bildungsexperten von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECD) haben im internationalen Vergleich Schlüsselkompetenzen untersucht. Wie gut können Erwachsene Lesen, Rechnen und Probleme mit Hilfe des Computers lösen. Dabei ging es zum Beispiel darum, aus Texten Informationen abzuleiten und diese Informationen mit anderen Dingen in Beziehung zu setzen. Testpersonen sollten Preisnachlässe in Supermärkten überschlagen, Temperaturen von Grad Celsius in Fahrenheit umrechnen (das wollte ich schon immer mal ;)) Schließlich wurden Computerkenntnisse geprüft. Etwa die Fähigkeit, sich eine Bordkarte für einen Flug auszudrucken.

Das Ergebnis: Im Lesen lief es in Deutschland nicht so toll. Rechnen ging etwas besser. Aber selbst hier: 18,5 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} konnten gerade einmal zählen. Etwa die gleiche Zahl kann gerade einmal einen superkurzen Text verstehen und auch aus diesem kaum Informationen herausziehen. Und auch bei der Computeranwendung kommt etwa der gleiche Prozentsatz, knapp 13 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040}, nicht über basale Fähigkeiten hinaus. Man fragt sich bei solchen Ergebnissen: Ja, und? Was hatten die Strategen geglaubt, die ja wissen, wie ein durchschnittlicher Text der BILD-Zeitung aufgebaut ist? Oder hat noch niemand dieser Experten und Journalisten eine jener zahlreichen Comedy-Befragungen in den Städten gesehen, bei denen man sich bei den köstlichen Antworten auf die Schenkel klopft.

Alarmismus und Schuldzuweisungen

Und, was soll jetzt der Alarmismus? Schuldzuweisungen, einfache Rezepte usw. Am besten gibt‘s bald noch einen Bildungsgipfel. Statt sich zu wundern, sollte man sich doch lieber einmal gesellschaftliche Realitäten anschauen. Wer bitte soll in einem gesellschaftlichen Kontext Prozent- oder Überschlagsrechnungen beherrschen, in dem einem Kassensystem und voll automatisierte Abrechnungen jeden Spielraum zum Selbstrechnen nehmen? Natürlich, meine Oma, die beim Mangeln von ihren Kunden einst Pfennigbeträge abrechnete, war im Kopfrechnen bestimmt, trotz ihrer einfachen Volksschulbildung, wesentlich gelenkiger als ich.

Wer möchte sich wirklich darüber wundern, dass die Menschen heute viel weniger Texte lesen, wo doch der Löwenanteil der Informationen über Filme oder Hörfunkbeiträge verbreitet wird? Und andererseits: Wo liegt die Verhältnismäßigkeit in der Berichterstattung, wenn immerhin gut 80 {29198b972399c81ed5054510dfa220ef2abbd08e78f3050c7d7070df681d4040} offenbar keine Schwierigkeiten mit den so genannten Kulturtechniken haben. Gerade läuft die Buchmesse an: Die Leidenschaft am Lesen vom Kleinsten bis zum Ältesten ist ungebrochen. Millionenauflagen zeigen: Bücher werden gelesen. Also, warum diese künstliche Aufregung? Die Menschen entwickeln die Fähigkeiten, die sie für die Bewältigung ihres Alltags brauchen. Wie wäre es, wenn man einmal untersuchte, was die Leute KÖNNEN?

Und wenn diese (alten) Fähigkeiten in ihrer Qualität abnehmen, sollte sich die Gesellschaft fragen, wie viel Freiraum zur Entfaltung den Menschen gegeben wird? Warum soll jemand rechnen lernen, der nur Barcodes einlesen muss? Und wenn so etwas automatisiert wird, bedarf es noch nicht mal dieser Fähigkeit. Man kann natürlich trefflich darüber streiten, welche Kompetenzen Schule vermittelt. Sinnvoller wäre allerdings der Frage nachzugehen, welche Kompetenzen das Leben – für das man ja angeblich lernt – am Ende wirklich abfragt. Und dafür sehen die Ergebnisse dieses neuen, „spektakulären“ PISA-Tests noch ganz gut aus. Anlass, um Untergangsszenarien zu kreieren, sind sie jedenfalls nicht, sondern höchstens, um sich Gedanken zu machen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Für die jetzige reichen die Kenntnisse offenbar aus.


Share.

Ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er studierte Deutsch, Geschichte und Politik in Göttingen und war acht Jahre lang Lehrer an einer Waldorfschule. Als Publizist und Politiker arbeitete er viele Jahre im extrem rechten Milieu. Im Juli 2012 stieg er aus dieser Szene aus. Seitdem engagiert sich Molau in Sachen Extremismusprävention bei Seminaren, Vorträgen und in Aufsätzen. Heute ist er selbstständig für das Textbüro dat medienhus tätig.

Comments are closed.