Foto: FDP

Kaum hatte der 20. Jahrestag des Brandanschlages von Solingen am 29.05.2013 begonnen, an dem die Menschen der Todesopfer gedachten, welche die Familie Genc zu beklagen hatte, ereigneten sich parallel dazu jenseits der deutschen Grenzen anderweitige Vorkommnisse, die noch ein immenses Medieninteresse gewinnen sollten. Und nicht nur Minderheiten begannen, sich für dieses Thema zu interessieren, ja auch die überregionalen Medien in- und außerhalb Deutschlands berichteten auf einmal darüber. Was war passiert, dass die Medien sich, trotz drängenderer Themen wie Syrien, Myanmar, dem NSU oder dem 20. Jahrestag der Solinger Mordanschläge, in denen es um Menschenleben ging, auf einmal auf den Taksim-Platz stürzten?

Umweltschützer demonstrierten friedlich auf dem Taksim-Platz in Istanbul gegen den Bau einer Kaserne und die dafür erforderlichen Umbaumaßnahmen des Gezi-Parks. Ein Park, der in den 40er-Jahren dort angelegt wurde, wo ursprünglich die Kaserne gestanden hatte. Im Gezi-Park stehen 12 Bäume, wobei die Standorte von 10 Bäumen versetzt und zwei abgeholzt werden sollten. Die Polizei griff gegen die Demonstranten hart durch und setzten Tränengas und Wasserwerfer ein. Dieses harte Durchgreifen löste auf der ganzen Welt Empörung aus, die sich auch in den sozialen Netzwerken breit machte.

Infolge der Proteste gerieten in den sozialen Netzwerken auch gefälschte Bilder in Umlauf, was die Gemüter noch mehr reizte. In Deutschland stand der Taksim-Platz auf einmal im Fokus der Medien. Zumeist undifferenzierte Berichte, vermutlich ausgelöst oder begünstigt durch die gegenseitigen Provokationen in den sozialen Netzwerken, aber auch auf politischer Ebene in der Türkei seitens der Opposition machten die Runde. Auch Stimmen aus der Politik in Deutschland wurden laut. Diese Wortmeldungen hatten meist einen vorwurfsvollen und fordernden Unterton, was in einem Teil der hiesigen türkischen Community nicht unbedingt gut ankam. Es gibt aber nicht nur Stimmen dieser Art in der Politik.

Drei FDP-Bundestagsabgeordneten gehen mit gutem Beispiel voran und zeigen, dass es auch alternative Stimmen und Meinungen in der Politik gibt. Deshalb haben sie in diesem Zusammenhang einen Brief an den Premierminister der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, geschrieben. In diesem Schreiben würdigen sie die Leistungen und Fortschritte der Türkei während der letzten zehn Jahre, aber sie ermuntern den Regierungschef auch dazu, auch den Umgang mit politischen Gegnern im Vergleich zu dem zu verändern, was früher in der Türkei üblich war. Diesen Brief veröffentlichen wir im Wortlaut:

An den Premierminister der Republik Türkei, Herrn Recep Tayyip Erdoğan,

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

wir schreiben Ihnen als Freunde Ihres Landes und mit großem Respekt vor den Leistungen, die Ihr Land in den letzten Jahren vollbracht hat. Diese großen Erfolge haben dazu geführt, dass viele Menschen – etwa in Nordafrika oder der arabischen Welt – in der Türkei das Modell für einen modernen und erfolgreichen Staat mit islamisch geprägter Kultur und Gesellschaft erkennen.

Viele Menschen, die in Deutschland leben, hat das mit Stolz erfüllt. Denn ihre familiären Wurzeln liegen in der Türkei. Doch dieser Stolz weicht immer mehr einer Verunsicherung und Traurigkeit wegen der Bilder aus Istanbul.

Die Bilder zeigen uns eine außergewöhnliche Härte, mit der die Polizei gegen Demonstranten vorgeht. Wir lesen Berichte über den Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern, was zu mehr als tausend Verwundeten geführt hat. Viele Menschen in Deutschland sorgen sich daher um ihre Freunde und Familie, und sie sorgen sich ebenso um das politische Klima in der Türkei.

Daher möchten wir Sie als Freunde Ihres Landes, aber auch als Vertreter vieler deutscher Staatsbürger, deren Wurzeln in der Türkei liegen, bitten, einen anderen Weg als den der Härte zu gehen: Machen Sie die Menschen wieder stolz, indem sie Souveränität durch Dialog zeigen! Nutzen Sie die Proteste als eine Chance, um die Demokratie in der Türkei noch mehr zu stärken. Lösen Sie offene Konflikte ohne Gewalt, indem Sie Verhältnismäßigkeit und Augenmaß zu ihrem Recht gelangen lassen. Denn die Demokratie ist das Fundament nicht nur für die vergangenen, sondern auch für die zukünftigen Erfolge Ihres Landes.

Mit ausgezeichneter Hochachtung

Deutscher Bundestag Berlin, 05.06.2013

Marco Buschmann                   Bijan Djir-Sarai                       Johannes Vogel

Vielleicht ist es auch diese Form von Taktgefühl, gerade angesichts des aktuellen NSU-Verfahrens und des 20. Jahrestags von Solingen, das die Gemüter der türkische Community beruhigen kann und die Wege zu einem gemeinsamen Miteinander ebnet. Meine Sympathien haben die FDP-Politiker schon mal gewonnen.

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern. Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein. Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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