Einen „faulen Kompromiss“ nennen Beobachter die Optionspflicht zur doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland. Die 1999 im Einvernehmen zwischen der damaligen rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder und der Opposition geschaffene Regelung sieht vor, dass ein in Deutschland geborenes Kind ausländischer Eltern automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit neben der Staatsangehörigkeit der Eltern erhält, wenn sich ein Elternteil seit mindestens acht Jahren in Deutschland aufhält.
So weit, so gut. Das Kind muss sich jedoch mit Eintritt der Volljährigkeit entweder für die Staatsangehörigkeit seiner Eltern bzw. des Elternteils oder für das Land, in dem es geboren wurde, entscheiden. Fällt die Entscheidung nicht bis zum 23. Lebensjahr, geht die deutsche Staatsangehörigkeit automatisch verloren. Ausgenommen sind eigenartigerweise Kinder und Jugendliche aus EU-Staaten, der USA, Schweiz und weiteren Nationen. Diese Regelung, die nach Willkür und Ausgrenzung riecht, trägt vor allem bei der großen Mehrzahl der türkischen Jugendlichen und deren Eltern zur Verunsicherung bei.
Viele Mädchen und Jungen, die vor allem verwandtschaftliche Beziehungen in die Türkei haben, möchten gerade deshalb beide Staatsangehörigkeiten behalten, weil sie sich sowohl in der Türkei als auch in Deutschland heimisch und wohl fühlen. Diese Jugendlichen sind hier geboren, aufgewachsen, sozialisiert und loyale Bürger dieses Landes. Sie weisen aber auch eine besondere, vor allem emotionale Verbundenheit mit dem Land ihrer Eltern und Großeltern auf. Daher ist zu beobachten und festzustellen, dass diese Jugendlichen nicht in „Entweder/Oder“, sondern in „Sowohl/Als auch“-Kategorien denken und fühlen.
Es gibt so viele Identitäten wie es Menschen gibt
Menschen in eine einzige Identität hineinpressen zu wollen, ist scheinheilig. Der indische Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Soziologe Amartya Sen bezeichnet diesen Vorgang als „Identitätsfalle“. Auch die Frage, zu wie viel Prozent man sich als Deutscher und zu wie viel Prozent als Türke, Araber oder einer anderen Ethnie zugehörig fühlt, ist absurd. Man kann sich zu 100 Prozent als Türke fühlen und ebenso zu 100 Prozent als Deutscher, aber auch zu 100 Prozent als Bayern-München-Fan, Thüringer oder als Umweltaktivist. Es ist ein Reflexionsprozess, der sich in jedem Einzelnen abspielt und bei allen verschieden. Die eindimensionale Denkweise scheint aber für manche „alten“, konservativen Köpfe immer noch als Maßstab zu gelten. Deutschland ist aber ein Land, das sich wandelt. Ein Land, das dabei ist, vielfältiger zu werden und mehrdimensional zu denken. Dies sollten gerade auch jene Parteien berücksichtigen, die in letzter Zeit, z.B. bei den Wahlen in Niedersachsen, nur sehr knapp verloren haben – nicht zuletzt, weil sie Menschen mit Migrationshintergrund kein glaubwürdiges politisches Angebot machen konnten.
Laut Recherchen der Frankfurter Rundschau sind derzeit nur 16 Fälle bekannt, in denen junge Menschen gegen ihren Willen den deutschen Pass verloren haben. Weiter berichtet die Zeitung jedoch, dass in diesem Jahr insgesamt 3.300 Mehrstaatler das Optionsverfahren durchlaufen, sich also für eine Staatsbürgerschaft entscheiden müssen. In den kommenden Jahren soll diese Zahl gar auf bis zu 7.000 und mehr anwachsen. Des Weiteren veröffentlich die Zeitung eine Erhebung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Im Jahre 2018 soll es etwa 40.000 Optionspflichtige geben, die möglicherweise ihre deutsche Staatsbürgerschaft verlieren werden.
Eine weitsichtige Politik darf Menschen aber nicht zwingen, sich für ein Land entscheiden zu müssen. Im Wettbewerb mit anderen Nationen, wo es um nationale, aber auch europäische Interessen geht, sowie vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels kann Deutschland gerade von der doppelten Staatsbürgerschaft profitieren. Aus Doppelstaatlern können vorzügliche Brückenbauer werden. Der Islamwissenschaftler und Theologe Bekir Alboğa ist ein gutes Beispiel für einen solchen: Er hat kürzlich neben seiner türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Dies ist ein Beweis dafür, dass Menschen sowohl dem Land, in dem sie leben, als auch ihrem Herkunftsland dienlich und nützlich sein können. Falls man dies aber verhindern möchte, bleiben Verlautbarungen von Regierungsvertretern, dass interkulturelle Öffnung sowie Heterogenität unser Land bereichere oder dass es hier eine Willkommenskultur gebe, lediglich wertlose Lippenbekenntnisse.
Überparteilichen Konsens jetzt schaffen!
Es war ein Fehler der damaligen rot-grünen Bundesregierung, diesem Optionsmodell zuzustimmen. Doch sowohl die SPD als auch die Grünen scheinen daraus gelernt zu haben, so dass beide Parteien bereits 2011 einen – leider gescheiterten – Versuch unternommen haben, diesen zu revidieren.
Die Politikerinnen und Politiker erinnern sich sicherlich noch an ihre Wahlversprechen der letzten Landtagswahlkämpfe. Sie haben Lösungsansätze zu diesem Thema unterbreitet und versprochen, sich der Thematik nach einer Regierungsübernahme zu widmen.
Nachdem Rot-Grün nach den Landtagswahlen in Niedersachsen die Mehrheit im Bundesrat bekommen hat, käme diesen ein erneuter Vorstoß in dieser Frage der doppelten Staatsbürgerschaft sowie der Abschaffung der Optionspflicht gerade jetzt, vor den Bundestagswahlen, überaus gelegen. Die große Mehrheit der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger mit Migrationsbiographie würde dies bei den Bundestagswahlen sicher nicht unbeachtet lassen.
Natürlich sind auch die Bemühungen der FDP bei diesem Thema nicht von der Hand zu weisen und werden aufmerksam registriert. SPD, Linke, Grüne und FDP könnten gemeinsam Mut zeigen, um das Thema auf die politische Agenda zu setzen und auf diese Weise eine nachhaltige Lösung zu verfolgen.
Die Union dagegen muss sich selber die Frage stellen, ob sie sich weiterhin einseitig den Positionen der ländlich-konservativen Parteikollegen unterordnet oder die großstädtischen, migrantischen und vielfältigen Realitäten dieses Landes anerkennt. Kurz: Die Union muss sich fragen, ob sie im 21. Jahrhundert ankommen möchte.
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