Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan ist am Montagabend in Berlin eingetroffen. Erdoğan hat sich am Dienstag mit Merkel, Steinmeier und Gabriel zu Gesprächen getroffen. Am Abend hat Erdoğan wieder eine Rede vor einem großen Publikum gehalten. Aber wie steht es eigentlich um die deutsch-türkischen Beziehungen in den letzten Jahren? Beobachter sprechen von Abkühlung. Sowohl Erdoğan wie auch Merkel hatten am Dienstag die Chance, die beiderseitige und jahrhundertealte Partnerschaft neu zu beleben.

Die Internetplattform„German-Foreign-Policy.com“(GFP) hat vor einigen Monaten in einer Aufsehen erregenden Analyse die Hintergründe der deutsch-türkischen Beziehungen, aber auch die Neuausrichtung der türkischen Außen- und Wirtschaftspolitik beleuchtet. Um es vorwegzunehmen: Die türkisch-deutschen Beziehungen sind viel zu wichtig und zu weit fortgeschritten, um damit zu experimentieren.

Deshalb wurde auch Mitte Mai ein „strategischer Dialog“ zwischen Berlin und Ankara unterzeichnet, der künftig regelmäßig „die ganze Bandbreite der deutsch-türkischen Beziehungen abdecken“ und somit die bestehenden intensivieren soll. Die politischen Stiftungen werden dabei sicherlich weiterhin ihre bis dato immense Rolle zur Festigung der deutsch-türkischen Partnerschaft fortsetzen. Hans-Gert Pöttering, Präsident der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), möchte zumindest die Beziehungen beider Länder intensivieren.

Wie aus diplomatischen Quellen zu entnehmen ist, gibt es zudem aktuell auch bei der Körber-Stiftung Entwicklungen und Projekte zur Kooperation mit der Türkei. Deutschland verbindet eine sehr alte Freundschaft mit der Türkei. Die Bundesrepublik ist seit Jahren der größte Handelspartner und Investor in Kleinasien. Deutschland benötigt die Türkei besonders für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Geostrategische und energiepolitische Erwägungen spielen dabei eine wichtige Rolle.

Türkisch-afrikanisches Handelsvolumen von 2002 bis 2011 verfünffacht

Auf der anderen Seite kümmert sich die Türkei auch um neue politische und ökonomische Partner. So schreibt GFP: „Die Türkei richtet ihre wirtschaftliche und politische Expansion mittlerweile nicht mehr nur auf die arabischen Mittelmeerstaaten Nordafrikas, sondern auf den gesamten Kontinent. Auf der Grundlage dynamisch boomender Exporte hat sich das türkisch-afrikanische Handelsvolumen von 2002 bis 2011 verfünffacht; es soll in diesem Jahr weiter auf insgesamt 32 Milliarden US-Dollar steigen – also auf einen Wert, der sich bereits dem türkisch-deutschen Handelsvolumen annähert.

Unterhielt Ankara im Jahr 2005 nur vier Botschaften südlich der Sahara, so waren es Anfang 2012 bereits 15; im Jahr 2008 wurde bei einem Türkei-Afrika-Gipfel in Istanbul, begleitet von einem Türkisch-Afrikanischen Unternehmerforum, eine ‚strategische Partnerschaft’ zwischen Ankara und der Afrikanischen Union (AU) in die Wege geleitet.“

Eigenständige Politik Ankaras als Störfaktor?

Außen- und Sicherheitspolitiker äußern jedoch schon seit Längerem ihre „Befürchtung, Ankara könne außenpolitisch eigene Wege gehen und deutsch-europäischen Interessen zuwiderhandeln.“ Erst vor wenigen Wochen sorgte der türkische Ministerpräsident bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin mit seinem Vorschlag international für Aufmerksamkeit, die Türkei wolle  der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) beitreten, zu der sie seit dem Juni 2012 als fester ‚Dialogpartner’ institutionalisierte Beziehungen unterhält.

Die SCO ist ein Zusammenschluss, das – getragen von China, Russland und mehreren Staaten Zentralasiens – auf dem Feld der sogenannten Sicherheitspolitik tätig ist und manchen als künftige Alternative zur NATO gilt. GFP berichtet, dass Experten eine vollständige Abkehr der Türkei vom Westen zwar für unwahrscheinlich halten. Doch neuere Pläne zeigten, dass Ankara sich ernsthaft um neue Optionen bemühe. So sei die Kooperation mit Russland auf ökonomischem und auf energiepolitischem Gebiet beträchtlich gewachsen, die Rede ist von einem geplanten türkisch-russischen Handelsvolumen von bis zu 100 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015. Dies wiederum beunruhigt Europa. Auch ein geplanter Rüstungsdeal, den die Türkei mit China unterzeichnen möchte, führt zu Irritationen. Nato-Offiziere halten es für einen „Verrat“, dass die Türkei Flugabwehrraketen aus China und nicht aus den USA bestellen wolle. Mittlerweile soll der Deal jedoch in Frage stehen.

Abnahme der türkisch-europäischen Wirtschaftsleistung

Die Außen- und Sicherheitspolitikexperten von GFP weisen zudem auf diesen wichtigen Punkt hin:
„Berlin konnte sich bei seinen Einflussbemühungen bislang stets darauf stützen, dass Deutschland bis heute größter Investor und größter Handelspartner der Türkei ist. Diese Position ist inzwischen jedoch gefährdet: Gingen 2007 noch 56 Prozent der türkischen Exporte in die Eurozone, waren es 2012 nur noch 40 Prozent, während zugleich die Ausfuhren nach Nordafrika und Mittelost von 18 auf 34 Prozent stiegen.“

Bleibt zu hoffen, dass weder die politischen noch die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland hierdurch einen Schaden nehmen und die jahrhundertelange Partnerschaft zwischen diesen Völkern für immer bestehen bleibt. Am Dienstag haben die Staatschefs beider Länder die Gelegenheit bekommen, die ins Stocken geratenen Beziehungen nachhaltig auszubauen. Für ein erfolgreiches Deutschland. Für eine erfolgreiche Türkei. Und für ein gemeinsames und starkes Europa.

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Ist Politologe, Historiker, Autor und freier Journalist. Zuletzt erschienen seine Bücher: „Islam in Deutschland – Deutscher Islam?” sowie „nach-richten: Muslime in den Medien”.

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