Mit Entsetzen mussten wir alle erfahren, dass am Wochenende zwei Autobomben mitten in Stockholm explodiert sind. Den Medienberichten zufolge handelt es sich beim Attentäter um einen Iraker, der mit 11 Jahren aus seinem Heimatland nach Schweden geflohen ist. Menschen auf der ganzen Welt fragen sich nun, wie ein anderer Mensch zu solch einer Handlung fähig sein kann. Zahlreiche Spekulationen könnten aufgestellt werden, welche die Motive des jungen Irakers klären wollen. Um der sozialen Wirklichkeit auf den Grund zu gehen, müsste man nahe Verwandte, Freunde und Bekannte des Täters befragen. Eins ist allerdings klar: Dieser Anschlag ist und bleibt ein Anschlag gegen die Menschheit und ist somit zu verurteilen. Mit anderen Worten:  Es handelt sich um einen terroristischen Anschlag.

Trotz dieser Gewissheit, möchte ich meine eigene These zum Anschlag mit euch teilen. Ich frage hier nicht, warum ein Mensch so etwas tut; damit soll sich die Psychologie beschäftigen. Um das Phänomen aber hinreichend zu erklären, möchte ich die ereignisbezogenen Handlungen des Täters analysieren. Ich werde hierzu die akteurtheoretische Herangehensweise zu Rate ziehen.

Wie oben erwähnt, floh der Täter im Kindesalter aus seiner Heimat Irak. Den meisten dürfte bekannt sein, dass es einen Irakkrieg gegeben hat. Die neuesten Wikileaks-Veröffentlichungen haben gezeigt, dass dieser Krieg gerade für die einheimischen Kinder ein tiefes Trauma hinterlassen hat. Aufgrund dieser Tatsache gehe ich davon aus, dass der Attentäter ebenfalls eine traumatisierte Kindheit erlebt haben muss. Aus soziologischer Sicht haben wir es hier mit einem emotional geladenen jungen Mann zu tun („Emotional Man“).[1]

Ganz am Rande: Die Frage, ob die Bush-Administration die Traumata von Kindern, wie auch Erwachsenen, einkalkulierte, als sie gegen den Irak in den Krieg zog, bleibt offen. Tatsache ist aber wohl, dass Präsident Bush sehr schlechte Berater gehabt haben muss.

Kehren wir zum Stockholm-Attentäter zurück: Aufgrund seiner Erlebnisse ist das Handeln des Attentäters emotional bedingt. Es ist überdies durchaus wahrscheinlich, dass er keine vernünftige Bildung genossen hat. In der „westlichen Welt“, in der fast jeder Menschen mit Migrationshintergrund Formen von Ausgrenzungen erlebt haben dürfte, ist es durchaus denkbar, dass auch der Täter mit solcherlei Erlebnissen konfrontiert war. Gruppierungen wiederum, die ihre politischen Ziele mit Gewalt durchsetzen wollen, haben bei verzweifelten Menschen, die über keine Perspektiven im Leben verfügen, leichtes Spiel. („Beeinflussungskonstellation“)[2.]

Ich möchte noch ausdrücklich betonen, dass dieses Blog nicht den Eindruck erwecken will, Muslime aller Welt müssten sich angesichts eines Bombenanschlags eines Individuums nun erneut rechtfertigen. Diesem Blog liegt ein anderes Anliegen zugrunde: In vielen Diskussionen erleben wir, dass unsere Gegenüber von Dingen sprechen, von denen sie im Grunde genommen sehr wenig oder gar nichts wissen. Die Behauptungen vieler Diskutanten basieren viel zu oft auf einem „Nicht-Wissen“. Trotz dieses „Nicht-Wissens“ werden folgenschwere Aussagen über Kulturen oder Religionen, in diesem Fall dem Islam, getroffen. Es soll sich bei diesem Eintrag also um keine Rechtfertigung, sondern um den Versuch einer Richtigstellung handeln. Denn dieses Blog möchte einerseits zeigen wie die soziale Wirklichkeit aussieht und andererseits wie jene soziale Wirklichkeit im Islam gehandhabt wird.

Mit meinen Ausführungen möchte ich zu folgendem Schluss kommen: Kein Anschlag kann auf die Gruppe der Muslime geschoben werden. Eine klare Haltung in dieser Hinsicht hat der Gelehrte Fethullah Gülen: „Ein Muslim kann kein Terrorist sein, ein Terrorist kein Muslim.“

Desweiteren berufen wir uns auf die Sure 5 Ayat 32 im Koran:

(…)Wer einen Menschen tötet – es sei denn als (vom Gesetz geforderte) Strafe für einen Mord oder dafür, dass Unheil auf Erden und Verderben angerichtet wurde – dann ist es so, als ob er die gesamte Menschheit getötet hätte; und wer ein Leben rettet, dann ist es so, als ob er der gesamten Menschheit das Leben erhalten hätte. Unsere Gesandten sind fürwahr (einer nach dem anderen) mit klaren Beweisen der Wahrheit zu ihnen gekommen (um sie wiederzubeleben, sowohl den Einzelnen als auch als ganzes Volk). Doch (trotz alledem) fahren viele von ihnen fort, Ausschweifungen auf Erden zu begehen.

Zu dieser Ayat sagt der Gelehrte Said Nursi erklärend folgendes:

Die Rechte eines Unschuldigen können nicht zum Wohle der Menschheit für ungültig erklärt werden. Auch darf ein Einzelner nicht dem Wohle der Allgemeinheit geopfert werden. In den Augen Gottes des Gerechten und vor Seiner Barmherzigkeit ist Recht gleich Recht, unbesehen ob groß oder klein. Das kleine darf nicht für das große gelöscht werden. Für das Allgemeinwohl dürfen Leben und Recht eines Einzelnen nicht ohne dessen Zustimmung geopfert werden. Ist er bereit, sie zu opfern, so ist dies eine andere Sache.“ (15. Brief aus dem Risale-i-Nur Gesamtwerk)

Es liegt also auf der Hand, dass man präventiv arbeiten muss, um terroristische Handlungen zu verhindern. Es kann keine Lösung darstellen, über Minarette, Burkas, usw. zu diskutieren. Ein Kolumnist der Tageszeitung Zaman schrieb einmal:

…nach dem Schweizer Exempel wird es im zivilisierten Europa nie wieder so sein, wie es einmal war. Nach dem Raub der Minarette steht zu befürchten, dass in nicht ferner Zukunft weitere Deckmäntel zerrissen werden. (M. Mertek, deutsche Übersetzung veröffentlicht auf der Seite des INID-Instituts am 14. Februar 2010)

Welche Maßnahmen werden Schweden und andere europäische Länder ergreifen, nach diesem Ereignis? Werden die Muslime jetzt stärker unter Generalverdacht stehen? Werden sie wieder per Gesetz ihrer Rechte beraubt? Wir werden sehen…


1 Ein Akteur-Modell aus der Handlungstheorie von Uwe Schimank

2 Eine Konstellation aus den sozialen Strukturdynamiken

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern. Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein. Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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