Bilinguale Sprachförderung an deutsch-türkischen Schulen
Eines der dicht von Türken besiedelten Wohnviertel in Berlin. Eine Frau, die aus einem der Fenster der obersten Stockwerke schreit:
„Ali! Oğlum komm! Yemek yiyeceğiz.“ („Ali, mein Sohn! Komm wir essen.“)
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten:
„Ya banane kommuyorum işte! Daha Fußballa başlamadık ki…!“ („Ist mir doch egal. Ich komme nicht. Wir haben doch noch gar nicht angefangen, Fußball zu spielen!“)
Türken in Deutschland sind mit obigem Dialog vertraut – Türken in der Türkei mag er hingegen seltsam erscheinen. Denn obwohl sowohl die Muttersprache der Mutter als auch die des Sohnes Türkisch ist, haben wir es hier mit einer veränderten Form einer Sprache zu tun, sobald Mutter und Kind miteinander in Kommunikation treten. Wir sehen oben, dass anstelle einiger türkischer Wörter deutsche Wörter benutzt werden (komm=gel, Fußball=Futbol). Es kommt sogar durch Mischung zweier Sprachen eine völlig neue Sprache zur Geltung (komm+uyorum=gel+miyorum; bei strenger deutscher Rechtschreibregeln müsste dieses Wort gar mit drei „m” geschrieben werden, denn im türkischen Verb signalisiert das „m” zwischen Wortstamm und -endung die Verneinung; in diesem Beispiel wird „komm” ja bereits mit zwei „m” geschrieben, hinzukommen müsste also noch das „m” für die Verneinung).
Wie ist diese Situation in einer Gesellschaft zu bewerten, in der Individuen unterschiedliche Muttersprachen haben? Ist die obige Situation, die eine natürliche Entwicklung in zwei- und mehrsprachigen Gesellschaften ist, ein ernst zu nehmendes Problem? Und wenn es ernst ist, was könnte man dagegen an präventiven Maßnahmen treffen?
Zwar gibt es keinen Konsens über eine Definition von Zweisprachigkeit, jedoch ist man sich dahingehend einig, dass die Basissprache als Muttersprache L1 und die Zweitsprache als öffentliche Sprache spezifiziert werden. Für Deutschland hieße das, dass die Türken als Muttersprache Türkisch und Deutsch als Zweitsprache sprechen.
Obwohl das Erlernen mehrerer Sprachen neben der Muttersprache eine Bereicherung darstellt, bringt es für die Kinder auch Probleme mit sich, die in Gesellschaften aufwachsen, deren Muttersprache anders ist als ihre. Kinder, deren Muttersprache von ihrer öffentlichen Sprache verschieden ist, weisen zwar sprachliche Kompetenzen in beiden Sprachen auf, werden aber im Schulalter niemals das gleiche Niveau wie einsprachige Kinder erreichen. Dafür sind sie im Grundschulalter in ihrer Muttersprache zu besseren Leistungen fähig.
Defizite gegenüber gleichaltrigen Kindern in der Türkei
In diesem Zusammenhang ist es für die Entwicklung der Persönlichkeit von immenser Bedeutung, die Muttersprache in Wort und Schrift richtig zu erlernen. Die Beherrschung der Muttersprache ist auch wichtig, um die öffentliche Sprache besser erlernen und damit in ihrem familiären und sozialen Umfeld besser zu Recht kommen zu können. Diese Situation kann sehr deutlich in Deutschland beobachtet werden: Bei türkischen Kindern im Schulalter wird die Muttersprache über den Weg der Familie erlernt. Das ist in der Türkei nicht anders, aber wenn man berücksichtigt, dass bereits die 3. und 4. Generation türkischstämmiger Kinder in Deutschland geboren wird und aufwächst, sind erhebliche Unterschiede im Prozess des Erwerbs der Muttersprache bemerkbar. Die Kinder in der Türkei sind also im Prozess der sprachlichen Entwicklung jenen Kindern, die in Deutschland geboren werden und aufwachsen, ihre Muttersprache nur im familiären Umfeld erwerben und keine Chance haben, ihre Muttersprache in der Grundschule zu erwerben, weit voraus.
Im Ergebnis beobachten wir eine zunehmend herausragende türkische Umgangssprache, die in einer gemischten Form aus Deutsch und Türkisch auftritt. Diejenigen, denen es gelingt, sich fern der Hektik und des Alltagstrubels zu halten, bekommen zwar eine gute Bildung, weisen jedoch einen begrenzten Wortschatz in der türkischen Sprache auf oder sie bevorzugen es, statt ihrer Muttersprache Deutsch zu sprechen. Einige geben sogar die eigene Muttersprache ganz auf. Als Konsequenz daraus wächst eine Generation heran, die wegen ihres Mangels an fließendem Türkisch und an Vokabeln einige Wörter aus dem Deutschen ins Türkische übernimmt (code-switching). Diese Generation spricht eine andere Sprache (Türkisch) als Gleichaltrige aus der Türkei.
Die oben erwähnten Probleme der jungen Generation haben jedoch noch eine ganz andere Dimension. Die Tatsache, dass türkische Kinder und Jugendliche, die in ihrer Muttersprache – die vor allem im in der öffentlichen Sprache (Deutsch) geführten Schulsystem von immenser Wichtigkeit ist – schwerwiegende Mängel aufweisen, unterstützt die These, dass das richtige Erlernen der Muttersprache eine direkte Auswirkung auf den Lernerfolg in anderen Sprachen hat. Ohne auf die Diskussionen und Theorien zu diesem Thema näher einzugehen, möchte ich mich auf die Frage konzentrieren, wie man die Muttersprache effizienter fördern kann.
Ich hatte bereits erwähnt, dass die Vermittlung der türkischen Muttersprache auf das soziale Umfeld, wie Familie und Freunde in Deutschland, beschränkt ist. Als Option bleibt ein außerordentlicher muttersprachlicher Unterricht, der meines Erachtens die effektivste Methode in Deutschland darstellt, um das Ziel der bestmöglichen Beherrschung der Muttersprache zu erreichen.
Option „Türkisch als Fremdsprache“
Der ideale Ausgangspunkt für das Erlernen der Muttersprache wäre, muttersprachlichen Unterricht bereits in den Kindergärten und der Kinderbetreuung einzuführen. Allerdings ist es derzeit aus zweierlei Gründen nicht möglich, einen solchen anzubieten: Erstens gibt es einen Mangel an Pädagogen, die einen muttersprachlichen Türkisch-Unterricht gewährleisten könnten und zweitens haben die Institutionen ihren Fokus auf andere Prioritäten gesetzt, wie die Sozialisation und das vorschulische Erlernen der deutschen Sprache. Bliebe noch die Einführung muttersprachlichen türkischen Unterrichts in der Grundschule, die zum Teil sogar in den Curricula einiger Grundschulen in Deutschland zumindest ein wenig Platz findet.
Auch wenn unterschiedlichste Projekte zu diesem Themenbereich angeboten und umgesetzt werden, erscheint mir ein Projekt als geradezu ideal anwendbar auf türkische Kinder – nämlich als Muttersprache Türkisch statt einer zweiten Fremdsprache anzubieten (siehe: Bielefeld und Küpper 1998, S. 215).*
In Anbetracht der Tatsache, dass im Regelfall Englisch die erste Fremdsprache an deutschen Schulen ist, ist es in den weiterführenden Schulen von immenser Wichtigkeit für türkische Schüler, dass es als Option einer zweiten Fremdsprache Türkisch gibt und diese in weiterer Folge auch im Zeugnis benotet wird. An diesem Punkt haben Eltern eine wichtige Verantwortung, vor allem während das Kind noch die Grundschule besucht. Wenn wir als Beispiel das Land Nordrhein-Westfalen betrachten, ist eine Mindestteilnehmerzahl von zehn Schülern, um Türkischunterricht an Grundschulen anbieten zu können. Ist diese Voraussetzung erfüllt, wird der Start des Türkischunterrichts auf der Basis einer Zusammenarbeit zwischen türkischen Eltern, mithilfe der Eltern- und Lehrer-Vereine und mit einem tauglichen Lehrplan eine immense Förderung der Grundbegriffe in der Muttersprache des Schülers mit sich bringen und auf diese Weise ein wichtiger Baustein für das Wahlpflichtfach Türkisch als Fremdsprache geleistet, das zu einem späteren Zeitpunkt belegt werden kann.
Die Gemeinschaftsschulen Gymnasium und Realschule Eringerfeld leisten in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Arbeit. Im Schuljahr 2006/2007 hatte zuerst das Gymnasium Eringerfeld seine Bildungstätigkeit begonnen, während die Realschule Eringerfeld mit dem Schuljahr 2009/2010 ihren Betrieb aufnahm. Bereits im Schuljahr 2008/2009 hat das Gymnasium in der 6. Klasse Türkisch als zweite Fremdsprache im Wahlpflichtfach (WP I) in seinen Lehrplan aufgenommen und im gleichen Schuljahr auch Türkisch als zweite Fremdsprache (WP II) in der 8. Klasse. Schüler, die an diesen Wahlpflichtfächern teilnehmen, haben die Möglichkeit, im Abitur ihre Muttersprache „Türkisch“ als zweite Fremdsprache im Leistungskurs (LK) zu wählen, die dann eine wichtige Rolle für sie mit Blick auf die Abschlussprüfungen darstellt.
Land NRW wertet Türkischunterricht auf
Im Schuljahr 2010/2011 hat das Schulministerium dem Gymnasium Eringerfeld die Erlaubnis erteilt, für Schüler, die vorher keinen Türkischunterricht erhalten hatten, ab der 10. Klasse Türkischunterricht im Status einer Fremdsprache durchzuführen. Dieser Unterricht ist eine Premiere für Nordrhein-Westfalen. Davor gab es diesen Unterricht nur für Russisch, Französisch und Italienisch. Eine andere Premiere hat das Land Nordrhein-Westfalen für die Realschule Eringerfeld mit Beginn des Schuljahres 2011/2012 ermöglicht. In der Realschule konnte für die Schüler mit Erlaubnis des Schulministeriums Türkisch als zweite Fremdsprache zur Auswahl in den Wahlpflichtbereich (WP I) eingeführt werden. Die Realschule Eringerfeld hat damit erstmalig in NRW neben Französisch auch Türkisch als Fremdsprache zur Auswahl im Wahlpflichtbereich. Davor wurde Türkisch nur als muttersprachlicher Unterricht angeboten. Das Fach hat durch den Erlass des Schulministeriums nun einen aufgewerteten Status und ist auch versetzungsrelevant.
Die steigende Bedeutung des Türkischunterrichts bringt auch die Notwendigkeit zusätzlicher Lehrer-Einstellungen mit sich. Derzeit unterrichten drei Türkischlehrer/innen in den Gemeinschaftsschulen Gymnasium und Realschule Eringerfeld. Auf Grund der neuen Entwicklungen brauchen die Schulen noch eine vierte Lehrkraft. Die Eringerfeld-Bildungsanstalten, die bislang nur eine sechsjährige Geschichte aufweisen, sind bereits jetzt ein gutes Beispiel für erfolgreiche Schulen mit einem hohen Anteil an deutsch-türkischen Schülern.
Welche Bedeutung hat dies nun alles? Im Anbetracht der Tatsache, dass der muttersprachliche Türkischunterricht nicht versetzungsrelevant war und nun doch im Wahlpflichtbereich als zweite Fremdsprache in den Lehrplan des Ministeriums als versetzungsrelevantes Fach aufgenommen wurde, betrachten sowohl die Schüler als auch die Lehrer und Eltern den Türkischunterricht ganz anders als vorher und dies erhöht natürlich die Effizienz des Unterrichts. Darüber hinaus bekommen diejenigen türkischen Schüler, die als Fremdsprache Englisch lernen, dabei Defizite beim Lernen aufweisen und kein Latein oder Französisch als zweite Fremdsprache wählen möchten, als Alternative die Möglichkeit, ihre Muttersprache als zweite Fremdsprache zu wählen.
Eine Sache des Willens
Es gibt aber auch noch einen anderen wesentlichen und wichtigen Punkt. Und zwar lernen die Schüler einer Bildungseinrichtung unter der Aufsicht jener Lehrer, die eine erforderliche pädagogische Ausbildung besitzen, ihre türkische Muttersprache und gewinnen dadurch mehr Selbstvertrauen. Die Schüler, die am besten in der Lage sind, sich in ihrer Sprache richtig auszudrücken, lassen wieder Generationen entstehen, die ihre Muttersprache richtig lernen und sich auch in dieser richtig ausdrücken können. Mit diesem Selbstbewusstsein werden sie sowohl in ihrer Heimat Deutschland, als auch in ihrer anderen Heimat, der Türkei, einer hoffnungsvollen Zukunft entgegensehen können.
Letztendlich bedarf es vor allem des erforderlichen Willens, um dies alles zu schaffen. Die Bildungseinrichtungen wie Schule, Kindergarten usw. müssen diesen Willen mitbringen, den Türkisch-Unterricht in den Lehrplan einfließen zu lassen und weiterzuentwickeln. Bei den Eltern sollte das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass es ihr Recht ist, nach diesen Kursen zu fragen und sie zu fordern.
Die Türkisch-Lehrer sollten wissen, dass ihre Verantwortung eine noch viel andere besondere Bedeutung hat als jene in anderen Fachrichtungen. Sie müssen wissen, wie man es schafft, das erforderliche Gespür für das richtige Erlernen der Muttersprache bei jenen Schülern zu vermitteln, die an ihrem Unterricht teilnehmen. Die teilnehmenden Schüler sollten sich dieser Gelegenheit bewusst sein und beim Lernen am Unterricht nicht nur an die Versetzung denken, sondern vor allen Dingen auch an das korrekte Erlernen ihrer Muttersprache.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, wenn jeder seinen Anteil zur Lösung dieses großen Problems beiträgt, wir wichtige Schritte in der Bildung und Lehre der türkischen Muttersprache gehen können.
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* Bielefeld, Heinz; Küpper, Ferdinand: „Muttersprache Türkisch anstelle einer zweiten Fremdsprache im Schulzentrum Hückelhoven-Ratheim”. Interkulturelles Lernen: Arbeitshilfen für die politische Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1998, S. 215-225.
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