Tag der Deutschen Einheit, Istanbul, Berlin, 1989, 3. Oktober, Deutschland
Foto: NobbiP / Wikipedia.org

Ein Kommentar zum diesjährigen Tag der Deutschen Einheit mit freundlicher Genehmigung des Vereins Begegnungen e.V. aus Stuttgart.

„Berlin darf nicht Istanbul werden“

So lautete eine der Parolen kleingeistiger Wutbürgerparteien in den 90er-Jahren. Heute ist der 3. Oktober, ich verbringe zum ersten Mal den Tag der Deutschen Einheit in Istanbul und frage mich, wie jemand überhaupt auf so einen dummen Spruch kommen kann.

Ich würde mir sehr wünschen, dass nicht nur Berlin, sondern noch mehr deutsche Städte mehr von dem gewinnen würden, was die Stadt am Bosporus ausmacht – eine Stadt, die stets auf der Höhe der Zeit liegt, die wächst und gedeiht und stets auf der Höhe der neuesten Technologien und Entwicklungen ist, aber sich trotzdem nicht von der Moderne ihre Seele rauben lässt.

Natürlich sind die eindrucksvollen Zeugen der Vergangenheit im malerischen Bezirk Eyüp, in dem ich diesmal den Tag der Deutschen Einheit erlebe, wie die Eyup-Sultan-Moschee, aus welcher der Gebetsruf den Friedhofshügel hinaufhallt, oder die eindrucksvollen Stätten aus christlicher wie aus osmanischer Zeit, keine Stätten deutscher Geschichte und der Herbstregen, der dem Ort und seinem Ambiente einen leichten Anflug von Schwermut in die Romantik des Fortlebens vergangener Tage hineinzaubert, entfaltet in Berlin vielleicht nicht annähernd diese Wirkung.

Aber was beispielsweise auffällt, ist – und so lässt sich der Bezug zum Tag der Deutschen Einheit wiederherstellen – der fast an amerikanische Verhältnisse erinnernde, selbstverständliche Umgang mit der Nationalfahne, die majestätisch von den Spitzen der Hügel über die Stadt weht und an allen Schul- und Verwaltungsgebäuden auch dann angebracht ist, wenn nicht gerade Nationalfeiertag ist.

Es erscheint fast überflüssig, zu erwähnen, dass im letzten Jahr in der gesamten Wohnumgebung meiner Heimatstadt, einer ostdeutschen Kleinstadt, mein Haus das einzige war, aus dessen Fenster am 3. Oktober eine schwarz-rot-goldene Fahne hing. Dabei sind gerade die Farben Schwarz, Rot und Gold jene, die historisch für ein Deutschland stehen, das hätte sein können, aber lange nicht sein durfte, ein Deutschland der Freiheit, der Einheit in Vielfalt und der Menschenwürde.

Dieses Symbol der nationalen Einheit Deutschlands unter demokratischen Vorzeichen stand für die Erhebung gegen Tyrannenwillkür zu Zeiten Napoleons, gegen Fürstenwillkür zu Zeiten der Deutschen Revolution von 1848 und für den Kampf gegen die Barbarei des nationalsozialistischen Totalitarismus, als das „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ in der Weimarer Zeit dem braunen und roten Irrsinn entgegentrat. So wenig wie die Schmähungen von Reichsnostalgikern und Neonazis diesen Farben ihren Sinn und ihre Würde rauben konnten, so wenig braucht man sich heute von GEW- und sonstigen Bedenkenträgern die Farben schlechtreden zu lassen.

Heute steht Schwarz-Rot-Gold für ein Deutschland, das seine dunklen Zeiten hinter sich hat und seit 23 Jahren vereint neuen Ufern entgegensteuern kann. Auch seine Bevölkerung ist eine andere geworden. Viele Einwanderer und ihre Nachkommen haben keinen Bezug zu den dunklen Zeiten der deutschen Geschichte, wissen aber sehr wohl aus ihren eigenen Ländern, welches Leid und welchen Schaden Unfreiheit und Gleichmacherei einem Land und seinen Menschen zufügen können.

In diesem Wissen und in diesem Bewusstsein wollen sie mit an einem Gemeinwesen bauen, in dem Menschen nicht ihrer Herkunft wegen Nachteile erleiden und in dem kulturelle und religiöse Vielfalt als Chance und nicht als Bedrohung gesehen werden. Dass muslimische Gemeinden den 3. Oktober als Tag der Offenen Moschee begehen, ist ein schönes Beispiel davon, wie man einem Tag, zu dem so vielen Menschen in Deutschland ein emotionaler Bezug fehlt – vielleicht, weil bloß ein Legislativakt begangen wird, der zu Ende führte, was bereit ein Jahr zuvor begonnen hatte -, eine besonders stilvolle und positive Note verleihen kann.

Und es ist, wie das Beispiel Istanbul zeigt, exakt jene Vielfalt und Heterogenität, die es erlaubt, das Beste an Fähigkeiten der Menschen eines Landes zur Entfaltung kommen zu lassen und Irrwege zu überwinden. Insofern würde es nicht nur Berlin, sondern ganz Deutschland und Europa gut tun, zumindest etwas mehr zu Istanbul zu werden…

 

 

 

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Jg. 1973, ist allein erziehender Vater, freiberuflicher Lektor, Lerncoach und Kommunikationsdienstleister. In diesem Rahmen ist er unter anderem Redakteur beim "Deutsch-Türkischen Journal", Betreuer der Wirtschaftsblogs "Wirtschaft Global" und der "Blickpunkt"-Reihe aus dem Hause der ADMG Publishing Ltd. (Saigon). Er lebt in Bernburg/Saale.

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