Wann bin ich „in Deutschland angekommen“, wo ich doch schon meine Spuren hinterlassen habe? Gedanken über die Einwanderung und das Fremdbleiben.
Ich möchte bitte einmal gefragt werden, was das für ein Gefühl ist, in einem Land zu leben, in dem man nie wirklich angekommen ist.
Hier ein Auszug aus einem alltäglichen Gespräch:
-Woher kommen Sie?
-Aus dem Sauerland, da, wo es am schönsten ist.
-Nein, ich meine woher kommen Sie?
-Ach ja, das meinen Sie. Ich dachte schon, Sie würden Sauerland nicht kennen. Ich bin unterwegs nach Deutschland. Hier geboren. Hier sozialisiert.
-Und wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?
-Wissen sie, es heißt im Türkischen so schön: „Wer weiß mehr? Der Reisende oder der Lesende? Natürlich der Reisende“, antwortet man daraufhin. Ich habe alles, was ich meine, zu können, auf meiner Reise gelernt…
Resultat: Stilles Schweigen meines Gegenübers, weil nicht verstanden.
Gut, dass ich nie in Deutschland angekommen bin. Denn wenn ich angekommen wäre, würde man mich schnell wieder zurückschicken, oder wie?
Ich befinde ich mich auf einer Reise in das Land, in dem ich meine, zu leben!
Lebe ich hier? Bin ich hier geboren? Bin ich nur eine Nummer für die Behörden? Was ist mit denen, die meine Existenz hier bezeugen, die mich erzogen haben? Was mit meinen Lehrern, meinen Nachbarn?
Die Kassiererin im Aldi: Ja, sie hat mich auch gesehen. Habe ich denn nicht am selben Ufer gespielt wie die Kinder von Hans und Petra? Ja, mein Papa heißt anders. Oder bin ich hier nicht geboren, weil meine Eltern ja auch nicht hier geboren wurden? Warum bin ich noch hier? Ich bin doch gar nicht hier. Also, muss ich weder fremdeln noch zurückkehren. Wie nimmt man mich wirklich wahr?
Oder bin ich wirklich nur eine Nummer? Welche Nummer? Kann man mich addieren, subtrahieren oder dividieren?
Wird man diese Nummer archivieren als Erinnerung an meine Existenz? Aber ich war doch niemals existent? Und meine Erzieherin im Kindergarten? Oder die Hebamme, die mich laut meiner Mama mit Vaseline beschmierte, weil ich zu trocken war auf meiner Oberfläche? Unaufhörlich blutete, am ganzen Körper? Sie muss es dokumentiert haben, wenn sie denn noch lebt, soll ich sie fragen? Einen Mutterpass habe ich auch noch. Würde das vielleicht als Beweismaterial reichen? Oder sind ihnen Negativschlagzeilen in den Medien über mich lieber? Darüber, wie radikal und was für eine potenzielle Gefahr ich deshalb doch bin?
Wie kann man in einem Land leben, in welches man doch noch auf der Reise ist? Wie kann man dort eine Meldebescheinigung besitzen oder von A nach B umziehen, neue Nachbarn kennenlernen, ihnen Hilfe anbieten? Dann auch noch den kleinen Ort vermissen, in dem man meint, dort habe man schon als Kind so viel geweint?!
Alles nur eine Illusion? Wie kann man Brücken bauen, statt Mauern? Wen kann und soll ich fragen?
Soll ich lieber die Wände fragen? Die Wände der Grundschule, innerhalb derer ich mir neben dem Lesen und Schreiben auch noch eine Sprache beibringen musste? Oder die Wände des Krankenhauses, in dem ich geboren wurde?
Menschen sind vielleicht gegangen, aber die Wände stehen noch, die mich in frischem Zustand sahen. Oder; sitze ich im Zug neben meinem Papa und die Reise hat noch gar nicht begonnen?
Ich glaube ja. Weder Papa, noch der Zug und auch nicht der Schaffner wissen, dass ich da sitze oder die nächsten fünfzig Jahre noch sitzen werde.
Ich sehe: Die Reisenden. Die Reisenden voller Hoffnung im Koffer. Die Kinder, die noch gar nicht geboren sind. Die unwissenden Mütter, die nicht einmal schwanger sind, die noch gar nicht Akademiker aus ihren Kindern schmieden wollen, im Glauben, Bildung würde die Welt erleuchten. Auch sie sind noch nicht da.
Ich habe noch kein einziges Gedicht von Goethe gelesen, aber höre Lessing.
Dass es sie gibt, weiß ich auch noch nicht. Noch habe ich keinen Namen, der fremd klingt.
Einen Namen habe ich vielleicht. Ich weiß nicht. Ich kann ja noch nicht einmal lesen. In die Literatur habe ich mich auch nicht verliebt, aber irgendwie höre ich die Rhetorik der Reisenden und kann sie sogar deuten und hören kann ich auch. Nur das Sprechen, das muss noch gelernt werden.
Ich höre die Reisenden; sie singen die schönsten Lieder über das Ankommen am Ziel. Sie sagen und trösten sich gegenseitig: „Wer sich das Brot vom Felde nicht holt, für den rollt der schwarze Zug ins Exil.“
Auch sie haben Fragen, doch stellen diese sich nicht. Jetzt müssen sie stark bleiben. Nicht an die Kinder oder Frauen denken, mit denen niemand rechnet oder über die sie meinen, sie hätten sie zurückgelassen, die aber als unsichtbare Wesen mit in diesem Zuge sitzen.
Stark, gesund und munter muss angekommen werden. Gleich werden sie abgeholt, abgezählt und eingesetzt, obwohl sie da nie angekommen!
Ihre Lieder bringen sie und ihre Hoffnungen. Niemand rechnet mit mir.
Neben ihnen sitze ich und möchte, wie und warum auch immer ankommen.
Aussteigen möchte ich. Gehen. Mich fortbewegen. Laufen und Spielen.
In mir tobt in mir ein Frieden. Denn eine Reise, die ewig dauert, kann mein kleines Herz weder überwinden noch als spannend empfinden.
Irgendwann ja, irgendwann muss diese Reise enden.
Die Kinder des rollenden schwarzen Zuges wollen aussteigen. Obwohl der Zug längst nicht mehr rollt. Die eigentlichen Passagiere wurden schon vor fünfzig Jahren abgeholt, abgezählt, zweckgemäß eingesetzt. Haben sie, während sie auf der Rückreise sind, ihre (un)sichtbaren Kinder im schwarzen Zug zurückgelassen?
Rana Argan möchte, falls es gestattet wird, auspacken, den Tisch decken und Ihnen über ihre lange zu lange, sogar immer noch währende Reise berichten. Denn mit dem Gefühl einer ewigen Reisenden lässt es sich nicht gut leben.
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