Hört sich gut an, zumindest im ersten Moment
Als kürzlich die Kultusminister zu ihrer 339. Plenarsitzung in Hamburg zusammengetroffen sind, bestand in einem Kernthema nur wenig Dissenz. Kultusminister-Präsident Ties Rabe hatte im Vorfeld des Treffens erklärt, es sei das gemeinsame Ziel, für ein gleiches Bildungsniveau und gerechte Abschlussprüfungen zu sorgen: „Wir leben schließlich in einem Staat – und nicht in 16 verschiedenen Staaten.“ Endpunkt dieser Vorstellungen ist dann ein bundeseinheitliches Abitur mit gleichen Standards. Gerechtigkeit und Chancengleichheit sind auf den ersten Blick ganz bestrickende Begriffe, zu denen sich niemand in Widerspruch setzen möchte. Sie sind, das ist der neue Politikstil, „alternativlos“. Denn das Gegensatzpaar wäre Ungerechtigkeit und Chancenungleichheit. Dass mit dieser Alternativlos-Basta-Politik, die bereits vom Ex-Kanzler Gerhard Schröder gepflegt wurde, kaum noch Diskussionen stattfinden, ist bedauerlich. Es stellen sich nämlich eine ganze Reihe von Fragen, die sich vor allem auf die Denkmuster beziehen, die den Vorschlägen der Kultusministerkonferenz zugrunde liegen. Provokativ könnte man Ties Rabe antworten: „Wir leben Gott sei Dank nicht in einem Staat, sondern in sechzehn Ländern.“
Föderalismus hat als Idee keine Konjunktur, schon gar nicht in der Bildungspolitik. Ganz rechts will die NPD sowieso alle Bundesländer gleich abschaffen – das historische Vorbild hat gezeigt, wie es geht – möchte auch ein einheitliches Abitur, und über Parteigrenzen hinweg wird der Ruf nach einheitlichen Standards, einem bundeseinheitlichen Abitur immer größer. Dabei ist es höchst fragwürdig, dass Gerechtigkeit und Chancengleichheit durch mehr Einheitlichkeit hergestellt werden und ob der Einheitsstaat im Sinne eines Zentralismus überhaupt wünschenswert sein kann. Auf die Fläche gesehen gibt es in Deutschland keine einheitlichen Lebensbedingungen und vor allem unterschiedliche kulturelle und soziologische Voraussetzungen, und deshalb kann und sollte es auch keine einheitlichen Standards geben. Eine ländlich geprägte Schule in Mecklenburg-Vorpommern hat es mit anderen Schülern zu tun als eine Innenstadtschule in Berlin oder Frankfurt, und diese beiden unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Klientel beide noch einmal von einer Bildungsanstalt im Allgäu.
Nicht allein soziale Unterschiede sind da festzumachen – gesellschaftlich ist man inzwischen dazu übergegangen rein materialistisch den Wert von Menschen auf die Bewertung ihrer Einkünfte zu reduzieren. Schüler, die in einem katholisch geprägten Raum im Allgäu leben und dort in die Schule gehen, leben eben aber nicht nur von der Einkommensstruktur in einem „anderen Staat“ als großstädtisch geprägte Schüler – mit oder ohne Migrationshintergrund und/ oder unterschiedlichen Hintergründen – oder jene, die im Osten dieses Landes sozialisiert worden sind. Warum soll dieser Unterschiedlichkeit nicht auch in den Bildungszielen und Standards Rechnung getragen werden? Warum muss eine Abituraufgabe in einer Gesellschaftswissenschaft wie Geschichte oder Deutsch in Berlin und Füssen identisch sein? Schließlich bringt man sich damit auch um die verschiedenen Erfahrungshintergründe, die eine föderale Vielfalt ausmachen, von der unser Land immer profitiert hat. Denn Föderalismus bedeutet auch vertikale Machtkontrolle, und Machtkontrolle ist notwendig für eine funktionierende Demokratie.
Der Ruf nach Gerechtigkeit und Vergleichbarkeit ist nur vorgeschoben. Denn, wenn man sich einmal unvoreingenommen über diese Begriffe Gedanken macht, so könnte man auch sagen: Gerechtigkeit kann nicht dann entstehen, wenn den unterschiedlichen Regionen ein Bildungsleisten aufgezwungen wird. Der Einheitsschuh passt dann nirgendwo und wird gewiss nicht dafür sorgen, dass Innovation und Neues entsteht. Ohnehin hat die Sucht nach Vereinheitlichung der Standards die Kehrseite aufzuweisen, dass man sich damit immer stärker auf eine Reproduktionsgesellschaft zubewegt, die das Neue und noch nicht Gekannte gar nicht sehen will und sich ängstlich hinter der Norm versteckt. Vergleichbarkeit: Jeder, der zur Schule gegangen ist, der erinnert sich an die Vergabe mündlicher Noten und weiß: es wird dort weder Gerechtigkeit noch Vergleichbarkeit herrschen. Man muss nicht alles vergleichen können, und man kann vor allem nicht alles vergleichen. Natürlich ist es eine Schwierigkeit, wenn man von Füssen nach Frankfurt zieht. Dies ist aber nicht nur der Fall, weil dort ein anderes Lernprogramm gefahren wird, mit sich unterscheidenden Prüfungsaufgaben, sondern weil man mit anderen Lebensrealitäten konfrontiert wird.
Und damit zeigt sich, welche Denkmuster hinter den aktuellen bildungspolitischen Forderungen stehen, nämlich solche des 19. Jahrhunderts, aus der Zeit als Deutschland ein Staat im modernen Sinn wurde. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ heißt es in unserer Nationalhymne: Einigkeit wollten die Patrioten des 19. Jahrhunderts, weil sie die Kleinstaaterei satt hatten, Recht, weil sie keine Willkür der Monarchie wollten und Freiheit, weil sie endlich sagen und tun wollten, was ihrem Wunsch und Denken entsprach. Auch die besten Forderungen haben ihre Kehrseite, in Sonderheit die Einigkeit in diesem Dreiergespann. Die „Einigkeit“ der nationalen Bewegungen in Europa als Ziel hatte zweifellos den Vorteil, dass der moderne Nationalstaat das Gefäß gewesen ist, in dem sich Menschen- und Freiheitsrechte entwickeln konnten. Andererseits hat er auch zu einer Einebnung geführt und wurde dann im 20. Jahrhundert durch die totalitären Ideologien zum Gefäß der Unterdrückung sowie der kulturellen und ethnischen Gleichschaltung. Diese Entwicklung begleitet eben auch die Entstehung des modernen Nationalstaates. Beispiel: Spanien. Die Reconquista als frühes Phänomen des Mittelalters zur Herausbildung eines modernen spanischen Nationalstaates hat zur Verdrängung des Islam und damit zu einer Zerstörung kultureller Traditionen und damit Erfahrungen in diesen Ländern geführt. Dass der Begriff gerade in der rechtspopulistischen Szene benutzt wird, ist kurios: Denn mit Demokratisierung oder mehr gesellschaftlicher Freiheit, wie man dies heute intendiert, hatte diese Bewegung nichts zu tun.
Die Überwindung des Nationalstaatsdenkens des 19. Jahrhundert muss die Fragen klären, wie viel Einheit überhaupt notwendig und wünschenswert ist, um einen Staat funktionstüchtig zu halten? Insofern ist die Diskussion der KMK eine grundsätzliche. Dem Ruf nach Einheitlichkeit ist das Modell der Vielfalt entgegenzusetzen. Es genügt nicht nur, wie dies Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst bei ihrer Regierungserklärung tat, zu fordern, dass man Vielfalt im Alltag leben müsse. In der Bildungslandschaft heißt das praktisch: Wenn jemand von A nach B zieht, dann wird er sich auf die Gegebenheiten in B einstellen müssen. B kann aber auch von den Erfahrungen aus A profitieren. Völlig unverständlich wäre es im Zuge einer Konfliktvermeidungsstrategie, A und B einfach nur einzuebnen. Natürlich leben wir in einem Staat. Aber erfreulicher Weise eben auch in sechzehn Ländern und in noch mehr Regionen, Städten und Dörfern.