Internationale Politik ist manchmal wie ein Stammtisch voller Philosophen – jeder weiß genau, was richtig ist, aber bestellt am Ende doch nur die Currywurst. Genau so verhält es sich mit der angeblichen Wertegemeinschaft, die sich der Westen nennt. Besonders deutlich wird diese selektive Moralvorstellung, wenn es um die Konflikte in Gaza und der Ukraine geht. Während man den einen mit energischem Blick und erhobenem Zeigefinger begegnet, wird beim anderen dezent weggeguckt oder zumindest nur halb hingeschaut.
Diese internationale Doppelmoral ist keineswegs neu, sie hat aber inzwischen Dimensionen erreicht, die an Absurdität kaum noch zu überbieten sind. Selbsternannte Hüter von Demokratie und Menschenrechten sind erstaunlich flexibel, sobald ihre eigenen strategischen Interessen ins Spiel kommen. Gaza steht hier symbolisch für eine Haltung, die gerne auf einem Auge blind ist – solange die Blindheit sich politisch auszahlt. Der Gazastreifen ist, global gesehen, längst nicht mehr nur ein Konfliktgebiet, sondern ein Indikator für westliche Glaubwürdigkeit geworden.
Moralische Maßstäbe à la Carte
Wo sich Politik und Moral treffen, entsteht oft ein bemerkenswertes Menü, das nach Belieben zusammengestellt wird. Manchmal bestellt man lautstark „internationale Rechtsstaatlichkeit“ und garniert sie mit empörter Entrüstung – wie aktuell in der Ukraine. Doch wenn Gaza auf der Speisekarte steht, bevorzugen westliche Regierungen eher einen zurückhaltenden Salat aus diplomatischen Floskeln. Menschenrechte gelten scheinbar überall, außer dort, wo es unbequem oder geopolitisch heikel wird.
Dabei lässt sich diese Haltung besonders ironisch an der Rolle der USA beobachten, die gern Demokratie und Freiheit predigen, aber zugleich Waffenlieferungen in Konfliktgebiete genehmigen, die diese Ideale konsequent unterlaufen. Doch auch Europa trägt gerne Scheuklappen, wenn politische Freundschaften gepflegt werden müssen. Moral wird hier zum selektiven Werkzeug, eingesetzt je nach politischer Wetterlage und eigenem Vorteil.
Wenn der Holocaust plötzlich Konkurrenz bekommt
Die moralische Autorität, die der Westen gerne beansprucht, basiert nicht selten auf historischen Narrativen, allen voran dem Holocaust. Doch immer häufiger wird Gaza als Symbol genutzt, um diese moralische Eindeutigkeit infrage zu stellen. Einige Intellektuelle sehen darin bereits eine Ablösung alter, eindeutiger moralischer Referenzpunkte. Kritisch betrachtet hat diese Entwicklung tatsächlich etwas Beunruhigendes: Die universelle Verantwortung aus dem Holocaust droht an Glaubwürdigkeit zu verlieren, wenn dieselben Akteure heute erneut Menschenrechtsverletzungen tolerieren.
Natürlich gibt es auch andere Sichtweisen: Manche Stimmen betonen, dass historische Vergleiche schwierig und unangebracht seien. Die Gefahr der Relativierung sei zu groß. Aber selbst wenn man vorsichtig mit historischen Analogien umgehen sollte – der bittere Geschmack der Doppelmoral bleibt bestehen. Denn wer heute mit dem Finger auf Putin zeigt, darf morgen nicht schweigen, wenn andere Staaten ähnliche Methoden anwenden.
Im moralischen Blindflug auf dem Weg zur internationalen Orientierungslosigkeit
Wer sich zu lange an selektiver Blindheit gewöhnt, verliert irgendwann auch die Orientierung. Gaza ist heute schon ein Symbol dafür, was passiert, wenn Glaubwürdigkeit geopfert wird, um kurzfristige Interessen zu wahren. Der Westen läuft Gefahr, nicht nur moralisch unglaubwürdig zu werden, sondern auch seine Rolle als Orientierungspunkt für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu verlieren. Dabei ist Ironie besonders bitter: Die Länder, die heute selektiv wegschauen, kritisieren morgen jene Staaten, die das internationale Recht missachten – und wundern sich dann, warum die moralische Empörung in anderen Teilen der Welt nur noch als zynisch belächelt wird.
Am Ende bleibt die Frage, ob selektive Moral die neue Staatsräson ist, oder ob es vielleicht doch klüger wäre, beide Augen offen zu halten – auch wenn der Anblick nicht immer angenehm ist. Der politische Trend zur moralischen Kurzsichtigkeit mag bequem sein, langfristig führt er aber direkt in den politischen Blindflug. Vielleicht hilft hier nicht nur ein Besuch beim politischen Optiker, sondern auch eine ehrliche Diskussion darüber, wie ernst es uns mit den eigenen Werten tatsächlich ist.