Die antipluralistische Sehnsucht des deutschen Konservativen
Vor wenigen Tagen habe ich auf dem „FreisinnBlog“ meines Freundes und DIB-Autorenkollegen Andreas Molau die „Russische Schule der Liberaldemokratie“ skizziert. Darin beschäftigte ich mich mit islamfeindlichen Abgründen im liberalen und libertären politischen und weltanschaulichen Spektrum und skizzierte, warum die Anti-Islam-Bigotterie und ihre denklogischen Konsequenzen einen fundamentalen Gegensatz zu den Kernbotschaften des klassischen Liberalismus darstellen.
Noch tiefere Abgründe hingegen offenbart ein nicht unerheblicher Teil jener Mitmenschen, die sich in Deutschland heute „Konservative“ nennen. Befragt man – was jeder Schüler, dem der Begriff im Fach „Politische Bildung“ erstmals begegnet, machen würde – Wikipedia darüber, was unter „Konservatismus“ zu verstehen wäre, erhält man unter anderem folgende Antwort:
„Als politische Strömung formiert sich konservatives Gedankengut erstmals beispielhaft in der Frühen Neuzeit, im politischen Kampf der Stände gegen den Machtanspruch des frühmodernen absolutistischen Staates. Er wurde zuerst getragen von den Kräften des Adels und den traditionellen regionalen Führungsschichten. Seine Ideen führte man dabei bereits früh zurück auf die Vorstellung der ,societas civilis‘ (lat., etwa: ,bürgerliche‘ oder ,Bürgergesellschaft‘), die man u.a. aus der politischen Theorie des Aristoteles entnahm, und die das Idealbild einer naturgemäßen, ,wohlgeordneten‘ Gesellschaft beinhaltete, in der jeder die ihm zukommende Stellung und niemand – auch nicht der Monarch – mehr als diese erhalten sollte.
Im 18. Jahrhundert bekämpften frühe konservative Denker den Rationalismus der Aufklärung, der den Glauben an die vernunftbestimmte Autonomie des Menschen und an dessen Fähigkeit zur rein vernunftgemäßen Neuordnung aller Bereiche des Politischen propagierte, was man als widerrechtlichen und widernatürlichen Eingriff des Menschen in die natürliche und göttliche Weltordnung ansah. Auch setzte sich hierin der anti-absolutistische Grundzug des Konservatismus fort, da sich die Herrschaftspraxis des ,aufgeklärten Absolutismus‘ zunehmend rationalistisch rechtfertigte. In der kritischen Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution und ihren Folgen entstanden schließlich die ersten großen politischen Programmschriften des Konservatismus (insbesondere bei Edmund Burke, Joseph de Maistre, Ernst Brandes, Adam Heinrich Müller und Karl Ludwig von Haller).“
Die „Konservative Revolution“ als Wiege der Volksgemeinschaftsideologie
Seither ist der Konservatismus weite Wege gegangen. Und während etwa in den USA eine Denkrichtung unter Konservativen vorherrscht, die starke Elemente des Konstitutionalismus und klassischen Liberalismus aufweist und die Ronald Reagan zu der Aussage veranlasste, der Libertarismus wäre das Herzstück des Konservatismus, hat sich die Situation in Deutschland nicht unwesentlich anders entwickelt.
In den USA war eine Nation entstanden, die im Sinne des Wahlspruchs „E pluribus unum“ die Einheit in Vielfalt anstrebte und diese als konstitutives Identitätsmerkmal verstand. Menschen jedweder ethnischer Herkunft und jedwedes religiösen Hintergrundes – auch und gerade aus Gemeinschaften, die inhaltlich auf keinen gemeinsamen Nenner kommen würden – einigten sich darauf, dass jeder Einzelne und jede Community das Recht haben sollte, nach ihren eigenen Vorstellungen leben zu dürfen und der Staat deshalb niemanden bevorzugen und in keiner Weise unangemessen in die Lebensgestaltung der Menschen eingreifen dürfe. Die unveräußerlichen Rechte – Leben, Freiheit, Streben nach Glück – wären dem Menschen von Gott gegeben, der Staat habe sie nur zu schützen, aber nicht über sie zu verfügen.
Amerikanische Konservative sind stark libertär und konstitutionalistisch geprägt, weil sie Homeschooling-Eltern, Amish-Gemeinschaften, fundamentalistischen Fernsehpredigern, Waffennarren oder Mormonenfamilien das Recht zubilligen, nach ihren eigenen Konzepten glücklich zu werden und es für unamerikanisch halten, dem Staat das Recht einzuräumen, an deren Stelle ein eigenes Konzept zu verordnen. Sie verlangen primär vom Staat, sie in Frieden zu lassen. Auch wenn es um Themen wie eine gesetzliche Krankenversicherung oder den Verkauf halbautomatischer Schusswaffen geht.
In Europa und erst recht in Deutschland hatte sich dieser Gedanke nie durchsetzen können. Man war es gewöhnt, dass der Staat – erst unter kirchlichen, später unter säkularen Vorzeichen – den Menschen vorgab, was zu tun sei, wer welche Gewerbe ausüben dürfe, wie viele davon wo eröffnet werden dürften. Man kannte Fürstenwillkür, Lehenswesen, Leibeigenschaft, der Landesfürst bestimmte, welche religiöse Überzeugung seine Untertanen zu pflegen hätten (wobei alle, die nicht einverstanden waren, nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 gnädiger Weise zumindest das Recht hatten, das Land zu verlassen). Das Zeitalter des „aufgeklärten Absolutismus“ brachte einen leichten Zugewinn an Religionsfreiheit für Minderheiten, markierte im Gegenzug aber durch die staatliche Gängelung der traditionellen Kirchen eine Art des Frühkemalismus unter europäischen Vorzeichen.
Die „Einheit“ als Glaubensbekenntnis der „verspäteten Nation“
Die Freiheit des Einzelnen hatte in diesem Denksystem nie einen besonderen Stellenwert. Und die Entwicklungen seit der Französischen Revolution, die aufgrund ihres ideologisierten antireligiösen Fanatismus und ihrer blutigen Begleiterscheinungen die denkbar schlechteste Werbung für die Idee eines demokratischen Verfassungsstaats in Europa war, schufen auch in Deutschland nicht die Voraussetzungen, die erforderlich gewesen wären, um einem republikanischen Verfassungsstaat nach US-Vorbild – der im Unterschied zur bloßen „Demokratie“ nicht nur die Legitimierung der Hoheitsträger durch die Mehrheit bei einer Wahl beinhaltet, sondern notfalls auch den Einzelnen vor der Mehrheit schützt – zum Durchbruch zu verhelfen.
Die Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland infolge der Hegemonialkriege, das Scheitern von 1848, das Aufkommen der neuen totalitären Ersatzreligionen des Nationalismus und Sozialismus auf der Basis der Lehren von Malthus und Darwin, die Industrialisierung und ihre Folgen, die „verspätete Nation“ und Reichseinigung unter preußischer Vorherrschaft nach Jahrhunderten der Zersplitterung, die Verschärfung der Klassengegensätze, die Kolonialära, die deutschen Einkreisungsmythen und der Erste Weltkrieg haben den Boden für einen Zeitgeist bereitet, der in Deutschland einen Konservatismus hervorbrachte, der unter dem Begriff etwas inhaltlich völlig anderes verstand als man es beispielsweise aus dem anglo-amerikanischen Raum kannte.
Die „Konservative Revolution“ schien ganz offenkundig das US-amerikanische Konzept der freien Republik, das im 19. Jahrhundert nicht zuletzt auch durch deutsche Flüchtlinge wie den badischen 1848er-Revolutionär Carl Schurz weiterentwickelt worden war, als Einfallstor für neuerliche Gefährdungen der späten deutschen Einheit zu betrachten und setzt das Konzept der „Volksgemeinschaft“ an dessen Stelle. In dieser sollten alle Gegensätze – Katholiken und Protestanten, Bayern und Preußen, Arbeiter und Fabrikanten usw. – sich auflösen, da der Staat und ein ethnisch homogenes und durch staatliche Erziehung auch in seinem Bewusstsein gleichgerichtetes Volk zu einer Einheit verschmelzen und die staatliche Führung intuitiv nach dem einheitlichen Willen des Volkes handelt. Der Einzelne ordnet nach dieser Vorstellung seine Interessen im Gegenzug dem Wohl der Volksgemeinschaft unter.
Die Idee der „Volksgemeinschaft“ hatte übrigens nicht nur in Deutschland Anhänger und wirkt zum Teil auch heute noch auf Menschen mit aufklärungskritischen oder romantizistischen Vorstellungen ansprechend – auch unter Deutsch-Türken findet man nicht selten 15- oder 16-jährige junge Männer, die mit leuchtenden Augen ihre „Ülkücüler“- Jackenaufnäher präsentieren und den „Schwur der Idealisten“ auswendig können. Vor allem Jugendliche glauben in aller Regel ehrlichen Herzens daran, dass diese Vorstellungen ihrem Leben Sinn geben und ihr Land zu einem besseren machen.
Die Downline dieser Idee war und ist jedoch, dass nicht sie es sind, die am Ende das Sagen haben und dass die Umsetzung der „Volksgemeinschaft“ in der Praxis immer mit der Etablierung autoritärer und etatistischer Herrschaftsstrukturen und mit der Ausgrenzung und Stigmatisierung von Personen oder Gruppen endet, die dem Adressatenkreis der „Volksgemeinschaft“ nicht angehören oder die nicht ausreichend zur Einheitlichkeit des „Volkswillens“ beitragen. Am Ende stand – wie auch bei den Einheits- und Gemeinschaftsideologien des Sozialismus und Kommunismus – stets die „Statolatrie“ (Ludwig von Mises), also der Zustand, da ein allmächtiger Staat sich selbst zum Götzen erhebt und anbeten lässt.