5. Tag Marokko

Ich bin wohl der einzige Türke in den Provinzen Ben-Said und Nador. Der „Kardasch“, wie sie mich alle nennen, scheint für die Imazighen eine Attraktion zu sein. Was „Kardasch“ bedeutet, konnte ich noch nicht herausfinden, aber wenn ich mir das Wort so aus dem Türkischen ableiten würde, komme ich auf die Bedeutung „Bruder“ – als „Weggefährte“ kann man es auch deuten. Jeder, der zu Besuch kommt, möchte den „Kardasch“ sehen. Nicht nur bei den Imazighen bin ich beliebt. Die marokkanischen Mücken Besuchen mich auch täglich. Soviel Aufmerksamkeit bekomme ich noch nicht mal auf Facebook.

Gestern bin ich auf einen Amazight getroffen, der mit mir Deutsch geredet hat. Und zwar fließend. Es war ungewohnt für mich, da ich seit Tagen nur Mazight zu hören bekomme.

Er heißt Mimoun Arkiza. Noch ein Arkiza, dachte ich mir. Er erzählte mir, dass er schon vor Jahren aus Deutschland ausgewandert sei. Nach dem Grund zu fragen hatte ich leider keine Zeit, da ich ihn zwischen Tür und Angel gesprochen hatte.

Mein Schwiegeronkel hat mir seine Ländereien gezeigt. Da im Dorf der Anteil der Analphabeten immens hoch ist, stellen Ländereien eine Existenz für diese Menschen dar. Seine Ländereien liegen direkt an der Küste.

Der 78-jährige Amazight hat mich ganz schön auf Trab gehalten, während er mal eben die Hügel bestieg und ich schon bei dem ersten großen Hügel außer Atem war.

Er hat seine Ländereien mit Steinen markiert. Sie liegen direkt an der Küste. Für das Wirtschaften der Ländereien setzen er und meine Schwiegermutter eine ganze Familie ein.

Sein Grundstück, auf dem mein Schwiegeronkel wohnt, begeht er jeden Abend mit einem Gewehr, um mögliche Eindringlinge abzuschrecken.

Ich habe mit ihm eine eigene Sprache entwickelt. Die verstehen nur wir beide, glaub ich. Ich kann kein Mazight, er kann kein Deutsch und Türkisch, also verständigen wir uns in einer Art Geheimsprache.

Die Häuser meiner Schwiegereltern und meines Schwiegeronkels liegen nebeneinander. Die Verwalter kümmern sich um alles. Dafür dürfen sie mietfrei wohnen und bekommen sogar monatlich Geld. Mit umgerechnet 160 Euro kommt eine Person im Monat ganz gut aus.

Die Häuser sind sehr idyllisch. Das Haus meiner Schwiegereltern liegt auf einem 1000-qm-Grundstück, umzingelt von einer Mauer. Die Türen sind aus Eisen. Das Dach ist in der Mitte frei, so dass es im Winter reinregnet und im Sommer die Sonne reinscheint. Die Zimmer gehen einmal um das zweistöckige Haus herum. Abends im Sommer ist es sehr schön, vor dem Haus zu sitzen. Wahlweise kann man entweder auf der Seitenterrasse oder auf der Dachterrasse sitzen. Ich schreibe diese Zeilen gerade auf der Seitenterrasse :-).

Das Haus meiner Schwiegereltern, in dem ich gerade meinen Urlaub verbringe, ist schon fast 50 Jahre alt. Mittlerweile gibt es in der Art viel größere Bauten.

Das war es vom Kardasch heute und morgen folgen weitere Berichte aus Nador. 🙂

 6. Tag Marokko

Kardasch meldet sich wieder zu Wort. Heute ist wieder eine Hochzeit am Start. Gestern war auch eine. Ich habe hier keinen Tag erlebt, wo keine Hochzeit stattfand.Gestern und heute hatte ich das Gefühl, im Ofen zu sein. An den Küsten hatten wir bis 36 Grad, aber in anderen Städten 40 Grad.

Den Feilschern unter uns empfehle ich den marokkanischen Bazar in Nador. Bei jedem Kauf haben wir den Preis runterhandeln können. Die Feilschmeisterin war meine Frau. Hat schon einen Vorteil, wenn man eine Tamazight dabei hat. 

Nach dem Einkaufsbummel haben wir uns mit den Kindern noch eine Bootsfahrt gegönnt. Auf dem Boot haben wir ein Lied gehört, das uns sehr gefallen hat. Auf Mazight natürlich. An einem CD-Stand haben wir genau das gleiche Lied gehört. Das musste natürlich in den Einkaufswagen. Bei allen Fahrten, die wir mit dem Mercedes fahren, hören wir das Lied. Ich wollte für euch mit der marokkanischen Polizei noch ein Selfie machen, aber keiner von denen hat es erlaubt. Ist wohl eine Anordnung vom König Mohamed. Die türkischen Soldaten und Polizisten erlauben es. 

Die Polizisten sprechen Französisch, das ist die zweite Amtssprache in Marokko. 

Der Straßenverkehr in Marokko ist ungefähr vergleichbar mit dem in der Türkei. Das reinste Chaos also. Wer den Straßenverkehr in diesen Ländern überlebt, der kann in der Tat Auto fahren. 

Die Straßen in Dorfgegenden sind nicht alle asphaltiert. Spätestens dann weiß man auch, warum der Mercedes so begehrt ist auf den Straßen. 

Die Infrastruktur ist hier auch sehr schlecht. Gestern hat uns eine schlechte Nachricht erreicht: Auf der Straße an der Küste hat sich ein tödlicher Unfall ereignet. Kurz vor dem Unfall bin ich dort vorbei gefahren. Bei dem Unfall kam ein 24-Jähriger ums Leben. Er ist auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben. Er sei verblutet.

In Thazaghine gibt es kein Krankenhaus. Das nächstgelegene ist in der nächsten Hafenstadt Al-Hoceima. Die Fahrt dorthin dauert eine gute Stunde. In solchen Fällen kommt kein Krankenwagen. Die Verletzten werden in den nächstbesten Wagen gepackt und nach Al-Hoceima gefahren.

Die Familie des verunglückten 24-Jährigen haben wir heute besucht. Neben der Trauer über den Sohn, habe ich erfahren, dass der verunglückte Sohn auch für den Unterhalt der Familie sorgte. Allah möge der Familie Kraft und Geduld geben. 

Was mir bei all den Begegnungen noch signifikant aufgefallen ist, ist, dass es keine Bäuche im Dorf gibt. Ich kenne nur einen bisher im Dorf und das ist mein ständiger Begleiter. Der Bauch vom Kardasch. Muss wohl an der Ernährung und an der Bewegung im Alltag liegen bei den Imazighen. Die essen nur von ihren Feldern auf dem Grundstück. Also alles Bio. Schmeckt auch dementsprechend. Deshalb schätze ich die Lebenserwartung im Dorf als hoch ein. Die Marokkaner achten sehr aufs Essen. Mein Schwiegeronkel benutzt immer das Wort „manjari“. Soweit ich weiß, ist es ein spanisches Wort, das mich wieder an die Einflüsse der Kolonialmächte erinnert.

Das war es vom Kardasch für heute. Morgen geht es dann inşaAllah in Richtung Ben-Tayeb, wo meine Schwiegermama herkommt. Ihre Schwester wurde operiert. Mal sehen, was mich dort für Abenteuer erwarten. 🙂

Nachtrag: Unser Wassertank ist leer. Schwiegermama hat angerufen, die kommen noch diese Nacht, um aufzufüllen. Wow, dachte ich. Zum Glück ist mir das nicht vorhin beim Duschen passiert.

7. Tag Marokko

Der Kardasch fängt seinen Eintrag schon mal in der Früh an. Unser Wassertank ist gestern Abend leer gelaufen. Wir haben erwartet, dass die Firma in der Nacht kommt und auffüllt. Pustekuchen.

Spätestens jetzt weiß man den Wert des Wassers zu schätzen. Wir müssen mit unseren Reserven in 2-3 Eimern auskommen. Daher gehen wir sehr behutsam mit dem Wasser um.

Wir haben hier auch nichtdie Chance, wie in Deutschland die Stadtwerke anzurufen und uns zu beschweren. Nicht alle leben in luxuriösen Verhältnissen wie die europäischen Marokkaner. Im Urlaub wird viel Geld mitgebracht und der Euro öffnet hier alle Türen.

Die Einheimischen im Dorf haben es immens schwer. Neben dem Problem mit dem Analphabetismus müssen sie für den Unterhalt der Familie sorgen. Geht bei den Familien der Wassertank leer und sie haben gerade nicht das nötige Kleingeld, haben diese Menschen ein Problem.

Jeder trachtet nach einem besseren Leben in Europa. Ein junger Mann, den ich persönlich kennen lernen durfte, hatte mal über einen Schmuggler einen Versuch nach Spanien gestartet. Er wurde erwischt und wäre fast dabei im Meer ertrunken.

Aus dieser Konstellation heraus wird gerne in europäische Familien geheiratet. Daher haben die Frauen, so aus der Perspektive der Imazighen, es aus existenztechnischen Gründen ein wenig besser. Ich als europäischer Deutschtürke kann sagen, dass dies zum größten Teil ein Trugschluss ist. Die Marokkaner der ersten Generation, die in Europa gearbeitet haben und jetzt Rente beziehen, sind zum größten Teil ganz zurückgekehrt. Mit ihrer Rente aus Europa haben diese Menschen im Vergleich zu den Einheimischen ein, ich würde nicht sagen besseres, aber leichteres Leben.

So, gleich geht es nach dem Frühstück nach Ben Tayeb. Mal sehen, was es dort für Nachträge geben wird. Euer Kardasch meldet sich wieder inşaAllah. 🙂

7. Tag Marokko Nachtrag

Kardasch ist heute nach Ben Tayeb gefahren. Der Weg dorthin führt durch die Gebirge. Es war mit Abschnitt der schlimmste Weg, den ich je erlebt habe. Da waren Schlaglöcher wie auf einem holländischen Gouda-Käse. Auch das hat der Mercedes gut gemeistert.

Die völlig zerstörten Straßen waren auch stellenweise gefährlich. Die enge Straße in der Kurve ohne Leitplanke auf schätzungsweise 2000-3000 Meter Höhe wurde nochmal durch den Gegenverkehr verengt. Da ist der Kardasch manchmal richtig ins Schwitzen gekommen.

Ben Tayeb ist eine kleine Stadt und zugleich eigenartig. Reich und Arm leben unmittelbar nebeneinander. Die Reichen setzen sich wieder aus den europäischen Marokkanern zusammen, die zum Teil ins Rentenalter gekommen und wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind.

Bei der Familie, die wir besucht haben, ist der Mann schon vor Jahren verstorben. Er war einer aus der ersten Generation in Frankreich. Seine Frau bekommt jetzt seine Rente aus Frankreich. Mit 1200 Euro lässt es sich in Marokko sehr gut leben. Sie hat ebenfalls ein ganz großes Haus und lebt mit ihren zwei Töchtern drin.

Bei dieser Gelegenheit haben wir noch eine andere Tante meiner Frau besucht. Sie lebt mit ihrer Schwiegertochter in einem Armenviertel. Es sind sehr schwierige Lebensverhältnisse dort. Das Haus, in dem sie wohnen, wurde nicht fertiggestellt. Sie lebt förmlich in einer Baustelle. Ich habe mir die Gegend mal angeschaut: Bei den anderen Familien sieht es nicht anders aus.

Bei der über 70 Jahre alten Frau kommt noch erschwerend hinzu, dass sie taubstumm und querschnittsgelähmt ist. Im Kopf ist sie aber frischer als ich, merke ich.

Solche Krankenbesuche sind immens wichtig im muslimischen Leben. Einerseits haben wir mit solchen Besuchen die Möglichkeit, den Menschen zu helfen und andererseits ist es eine erhebliche Horizonterweiterung für den Besucher. Manchmal haben einige Menschen Kristalle in der Hand, aber greifen nach Scherben. Allah möge uns Augen geben, diese Kristalle zu sehen und Allah möge dieser Frau viel Geduld und Kraft in ihrem Leben geben.

Bevor der Sonnenuntergang kam, hatten wir auch schon den Rückweg angetreten. Denn diese Straßen im Dunkeln zu fahren, ist nicht jedermanns Sache. Schon gar nicht für einen Kardasch, obgleich er verrückt genug dafür wäre.

Bis auf neue Eindrücke vom Kardasch.

8. Tag Marokko

Neues vom Kardasch.

Heute in der Früh sind wir wieder zum marokkanischen Bazar gefahren, um frischen Fisch zu holen. Und siehe da, mit unter den Ramschständen eine türkische Fahne und der Verkäufer mit einem Özil-Trikot. Ich wollte ein Foto mit ihm schießen, aber er hat es mir nicht erlaubt. Warum, dahinter bin ich noch nicht gekommen, aber man kann sich ja auch anstellen :-). Schließlich bin ich der Kardasch im Dorf.

Diese Abfuhr musste ausgeglichen werden. In dem Moment sichtete ich einen Stand mit Trikots und T-Shirts. Lahm, Lewandowski, Özil und Co waren alle dabei. Nun, da ich in Marokko war, habe ich mir bei dieser Gelegenheit das marokkanische Trikot und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Amazight“ ausgeguckt. Auf dem T-Shirt ist auch die Fahne von den Imazighen. Um das T-Shirt habe ich übrigens gefeilscht, worauf ich ganz stolz bin. Er hat mir erst einen Betrag von umgerechnet 9 Euro gesagt, worauf ich prompt nö gesagt habe :-). Nach einer Weile habe ich dann den Kardasch in mir raushängen lassen, woraufhin der Verkäufer locker gelassen hat. Immerhin ist er mir um 2 Euro runtergegangen.

Zu essen haben wir Tintenfisch geholt. Danach gab es wieder eine Siesta und am späten Nachmittag habe ich mich auf der Terrasse in der Sonne relaxt.

Um auf die Fahne der Imazighen sprechen zu kommen: Es wundert mich irgendwie, dass die Imazighen keinen Aufstand in Marokko machen. Sie sind schon immer die Einheimischen gewesen, bevor die Araber dazukamen.

Wenn ich mit dann in den ganzen Läden Bilder von König Mohamed sehe, schließe ich daraus, dass sie zufrieden sein müssen mit ihrem König. Aus ihrer Perspektive ist der König Mohamed ein Visionär und Reformer. Schließlich habe er sich um die Korrupten Machenschaften in Justiz und Politik gekümmert. Kann ich natürlich nicht ganz nachvollziehen, weil ich in die Tagesthemen in Marokko nicht involviert bin.

Und morgen geht es nach Al-Hoceima, in eine Hafenstadt. Mal sehen, was mich dort neues erwartet.

9. Tag Marokko

Einkaufsbummel und wieder kräftig am Feilschen. Der Straßenverkehr ist viel organisierter und besser ausgebaut in der Hafenstadt Hoceima. Es gibt hier sicherlich auch Armenviertel, aber wo ich mich gerade befinde ist deutlich gehoben. Die Goldpreise sind auf dem Höchststand erfahre ich.

Fortsetzung: Abschied von Marokko

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern. Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein. Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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