Im Migazin wurde jetzt ein spannender Beitrag über „Das ewige Lamento über die deutsche Sprachkultur“ veröffentlicht. Ein Beitrag, der zu Zustimmung und Widerspruch reizt. Fatih Köylüoğlu beschäftigt sich mit der kontroversen Diskussion „über den so genannten Verfall der deutschen Sprache“ und fordert zur Debatte auf. Er stellt zunächst zurecht fest, dass das komplexe Thema vor allem für politische Zwecke instrumentalisiert wird. In der Tat: Die Spanne der Diskutanten reicht vom missionarischen Sprachnörgler, der mit dem Untergang der Sprache gleich den des gesamten Abendlandes prognostiziert, bis zu jenen, die meinen, es gebe da überhaupt kein Problem. Die einen drängt es nach Protektion – das sind dann meist rechte Positionen, die sich auch sehr restriktiv etwa gegen Einwanderung als solche stellen –, die anderen vertreten in der Regel eher linke Positionen, die eine „weltoffene“ Gesellschaft ohne Grenzen für richtig halten. Die Diskussion über die Sprache ist dabei oft nur ein Nebenfeld.
Insofern ist auch Köylüoğlu, trotz seiner differenzierten Gedankenführung, selbst Partei, denn er diagnostiziert gar kein Problem. Zurecht stellt er fest, dass Sprache kein statisches System sei. Würde man Menschen aus dem 14. Jahrhundert treffen, die in unseren Breiten gelebt haben, würden sie die meisten Zeitgenossen heute kaum verstehen. In der Sprache verschieben sich Laute, Worte halten Einzug, verschwinden wieder oder werden geknetet oder deformiert. Manchmal kommen sie sogar zweimal ins System Sprache, wie etwa die Worte Pfalz und Palast vom lateinischen Palatin. Der Autor beschäftigt sich mit dem „Topos der guten alten Zeit“ und stellt fest, dass diese Klage alt ist. Zu jeder Zeit klagten die Alten, dass es früher besser gewesen sei. Die Kritik an diesem Topos ist absolut berechtigt. Der Topos selbst aber auch. Das mag ein Paradoxon sein, und ist deshalb gerade wahr. Man denkt an Henrik Ibsen, der einem Gesprächspartner in einer hitzig geführten Debatte fragte: „Ja, haben Sie denn noch nie bemerkt, dass bei jedem Gedanken, wenn man ihn zu Ende denkt, das Gegenteil herauskommt?“
Das Gerede von der guten alten Zeit kann ganz gewaltig nerven. Haben die Leute früher „besser gesprochen“? Ganz gewiss jedenfalls nicht, wie Köylüoğlu anmerkt, so wie Goethe. Schon gar nicht kann man die heutige Gebrauchssprache an der des Dichterfürsten messen. Und dennoch: Die „gute alte Zeit“, es gibt sie. Denn jeder hatte sie (in der Regel) ganz persönlich, erlebbar. Natürlich standen einem mit 20 (in der Regel) alle Türen offen, man war frei, im Vollbesitz der Kräfte. Die Zeit war also subjektiv gut und besser als später. Wenn man seine Heldentaten mit 60 Jahren einem vier Dezennien Jüngeren vorschwärmt, so gilt eben beides. Des einen Zeit war, die des anderen ist gut. (Auch der Genetiv verschwindet leider, obwohl er eine wichtige Funkton für Sprache hat). Was für das Leben gilt, gilt auch für die Sprache. Grundsätzlich gilt sprachgeschichtlich: Sprache vereinfacht sich, schleift sich ab im Verlauf ihrer Existenz (ob man Sprache als Leben werten kann, wäre noch einmal ein anderes Thema. Fakt ist, Sprachen können verschwinden).
Das Althochdeutsche war formenreicher als das Mittelhochdeutsche und dies wiederum vielgestaltiger als das Neuhochdeutsche. Das ist kein Werturteil, wenn man etwa das Wegfallen der starken Endungen oder die Entwicklungen von starken Verben anschaut, sondern ein Befund. Tatsache aber ist auch, dass es eben kein perfektes Deutsch gibt, wie Köylüoğlu richtig feststellt. Das starke sich Ausrichten an Normen führt sogar eher zu einer weiteren Sprachverarmung, die (das ist ein persönliches Werturteil) tatsächlich anzutreffen ist. Sprachunterricht beschränkt sich leider hauptsächlich auf die Vermittlung von Normen, nicht aber auf das Üben einer variationsreichen Sprache, die für die Totschlagvokabel „geil“ eine ganze Palette von zutreffenden Zustandsbeschreibungen bereit hält, die je nach Gemütslage schön, großartig, erfrischend, erhebend oder was auch immer sein können. Die Reduzierung im Bereich der Lexik würde ich persönlich tatsächlich als Verschlechterung bewerten. Denn nur differenzierte Sprache macht einen differenzierten Dialog möglich.
Ob die häufig beklagte Anglisierung das große Problem darstellt, kann man wohl wie Köylüoğlu bezweifeln. Ein „Ticket-Corner“ mag ebenso peinlich sein wie das Handy, das ein englischer Muttersprachler als Mobile bezeichnet. Aber die Sprache geht davon nicht unter. Verhunzt wird sie vielmehr durch Floskeln, mit denen zum Beispiel Politiker um sich werfen. Denn, wer Worte ohne Inhalt verwendet, behandelt Sprache wie ein Hund – er hunzt, wie man vor einigen hundert Jahren gesagt hätte. Lessing rettete dieses nicht mehr gebräuchliche Wort mit der Vorsilbe ver-(hunzen) in die Sprachgegenwart. Auch Fehler sind nicht das Problem, die übrigens auch von Muttersprachlern gemacht werden. Mancher „Fehler“ ist Literatur geworden und mit dem Duden im Kopf entsteht keine Poesie. Der echte Sprachphilister sollte daran denken, dass kein geringerer als Johann-Wolfgang von Goethe die Standardisierung von Sprache gänzlich abgelehnt hat.
„Die guten alten Zeiten waren auch mal die schlechten neuen Zeiten.“ – dieser Einschätzung Köylüoğlus kann man ebenfalls zustimmen. Und dennoch ist nicht alles unproblematisch. Sprache muss in ihrer Vielfältigkeit erübt werden, damit man sie weiterentwickeln und verändern kann. SMS-Sprachkultur, reduzierte Schulhofsprache sind zwar kein Zeichen für den Untergang der Sprache, aber dem muss Kreatives entgegengesetzt werden. So etwas gibt es, wenn sich etwa Sprachbegeisterte beim Poetry Slam treffen, es gibt gute Jugendliteratur, und es wird gelesen. In der Lehrplänen suche ich Erziehung zur Sprachkreativität allerdings vergebens. Stattdessen gilt es, Regelwerke einzupauken und der Deutschunterricht ist dann nicht selten genauso erfolgreich wie der Fremdsprachenunterricht, dem die Wenigsten den aktiven Gebrauch einer fremden Sprache verdanken. Allerdings muss auch darüber zu reden sein, ob es auf dem Schulhof oder der Straße eine Lingua Franca gibt. Ohne Spracherwerb kann keine Integration stattfinden. Dies allerdings ist wiederum weder allein die „Schuld“ der Einwandernden, noch der Einheimischen. Es gibt aber eben durchaus Problemfelder. Wichtig ist, dass über Sprache gesprochen wird. Deshalb war das ein spannender Beitrag im Migazin.
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