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Die junge, entzückende, von all den Bosheiten der Menschheit losgerissene Schönheit, stand mit all ihrer Mädchenhaftigkeit vor den Menschen der inzwischen verschollenen Stadt. Eine Eleganz, die keine Eloquenz keines Dichters mit keiner Metapher auf der Erde beschreiben konnte. Alle wichtigen, unwichtigen Männer und Frauen der Stadt versammelten sich mit einer aufgesetzten Visage vor ihr. Die Straßen überfüllten sich mit Leuten in Abendkleidern, teuren Anzügen und einfachen, naiven Leuten. Menschen aller Art, aller Klassen, allen Alters waren da, auf dem Marktplatz der stärksten Stadt der Erde. Der Name der Stadt? Verlorengegangen in den Büchern, dessen Schicksal der Tod durch das Feuer war. Vielleicht Athen, vielleicht Atlantis. Irgendeine Stadt lange Zeit vor der griechischen Mythologie.
Spielt denn die Stadt überhaupt eine Rolle, wo doch jede Stadt immer die gleichen Klassen von Charakteren aufzeigt? Tote Lebende, lebendige Tote, die in ihren komplett lachhaften Visagen eine nicht ernstzunehmende Ernsthaftigkeit auszustrahlen versuchen, ist ein Merkmal, welche wir noch heute mit aller Deutlichkeit erkennen können. Simple Arbeiter mit dem Lebensziel, zu überleben, ohne große Risiken zu tragen. Teure Kutschen, dessen Besitzer von koketten Frauen der Stadt heiß begehrt werden. Magier, die durch Lügen und Desinformation ihre Stellung neben den Adeligen versichern. Unsterbliche Adelige beim Polieren ihrer Kronen. Alles, überall, gleich, nur mit anderen Mitteln.
Das wunderschöne Lächeln
Der edle Gang der schönen Frau bewunderte jeden Einzelnen, der sich dorthin begeben hatte. Die Schritte waren wie der Flug einer Taube. Aus ihren Augen, gestohlen von einem Reh, floss ein ganz großer, weder zu heißer noch zu kühler Frühling in die Menschenmenge. Sie grüßte lächelnd und voller mädchenhafter Barmherzigkeit ihrer Augen, Jeden, der sie im Visier hatte. Ein großer Kampf zwischen den Auren begann in der Luft zu schwimmen. Die negative Aura des zu einem Monster gewordenen Neids gegen die Armee des Lächelns der jungen Dame. Noch war kein Spruch gefallen, kein einziger feindseliger Ton in die Menschenmenge gerufen, aber jeder Einzelne auf diesem Platz fühlte die Bedrängnis, diesen Raum der sieben Todsünden. Die einfachen Leute neigten in ihrem Gewissen zum hübschen Mädchen. Die Gutbürger, die Mächtigen der Stadt sahen in ihr eher die Hure Babylons als die bescheidene, gottergebene Nonne, was sich in ihren Blicken bemerkbar machte.
Das Lächeln schwindet wie der Wind
Als ein Wächter oder besser gesagt ein Hund der Adeligen auf die Schulter dieser Prinzessin gespuckt hatte, verging das Lächeln, der barmherzige Blick der schönen Frau. Sie schaute auf den Hund mit zwei Händen, zwei Füßen, völlig erschrocken, aber voller Selbstbewusstsein. Zorn wurde in ihren Augen geboren. Zorn breitete sich auf ihre Augenbrauen, auf den Blick aus.
„Was fällt dir eigentlich ein?“
Der Hund lachte dreckig und hasserfüllt, doch eine Antwort kam nicht aus seinem ekelhaften Mund, denn seine Zunge konnte nur Speichel und keine Wörter produzieren. Oh Justizia, arme Justizia, wie sie doch auf eine Hilfe aus der Menge gehofft hatte. In der einen Hand das Schwert, in der anderen die Waage, stand sie völlig hilflos da. Die Enttäuschung lag nicht in der Spucke oder in dem Gelächter dieses Wächters. Sie lag eher in der Stille der Herumstehenden.
„Warum diese Versammlung hier, warum das Fest und warum das?“, dachte sich die schönste unter den Frauen, dachte sich Justizia.
„Raus aus der Stadt, du Hure, du Hexe!“, schrie eine dicke Frau aus den hinteren Reihen, die man eigentlich für einen Mann halten könnte, wenn man ihre piepsige Stimme nicht gehört hätte. Ein langes, braunes, nicht sehr edles Kleid trug sie und stand mit den Händen um ihre weiten Hüften angelehnt.
„Du versaust unseren Ruf. Entweder gehst du aus der Stadt oder wir verbrennen dich hier auf der Stelle.“, forderte ihn ein alter, bärtiger Mann mit roter Nase auf. Der Weinkrug in seiner Hand sah für die Außenstehenden als große Last für diesen besoffenen Mann aus.
„Gott verfluche dich. Wegen dir werden wir noch alle in der Hölle schmorren.“, betete ein Geistlicher mit einem langen, weißen Gewand in Richtung Justizias. Nietzsche hatte im Falle diesen Mannes Recht. Gott war in ihm gestorben.
Eine Kettenreaktion begann. Flüche, Beleidigungen flogen mit einem hasserfüllten Wurf in Richtung dieser wundervollen Prinzessin. Sie wurde beschmissen mit Essensresten, toten Hasen, kleinen Steinen, Hühnerkot und allen möglichen anderen unvorstellbaren Sachen. Bemerkenswert war, dass nur die einfachen Leute die Drecksarbeit der Beleidigung, Beschmeißung übernahmen. Die Adeligen, die koketten Ladys waren sich zu schade und betrachteten dieses Fest in ekstatischem Schweigen. Jeder beleidigende Spruch entfachte einen sündigen Orgasmus in ihren teuren Seelen. Ein Schmunzeln der Zufriedenheit ging wie eine Welle durch die Reihen der Großen.
Die autoritäre Rede des Magiers
Der Magier Astros ging auf einen Felsen, machte eine mystische Handbewegung und bat das wütende Publikum um Ruhe. Er schaute gen Himmel, breitete seine Arme aus und begann zu reden: „Oh, ihr wertvollen Menschen dieser heiligen Stadt. Hört mir zu. Brecht nicht das Schweigen und haltet gegenseitig eure Hände fest, als ob ihr zum Allmächtigen da oben betet. Denn was ich jetzt sage, kommt von ihm. Von ihm, der mich zur Brücke gemacht hat, damit ich euch die Wolken wegjage und euch den blauen Himmel schenke, die Sonne aufblühen lasse, wo doch nur Regen war. Diese Frau hier, oh Gott, ich entschuldige mich bei all den Damen hier, weil ich sie „Frau“ nenne, hat diese Stadt, die Menschen, den Himmel und die Erde verraten mit allem, was sie leistete, wo wir all unsere Hoffnungen, unsere Treue ihrer schönen Augen zugesprochen hatten. Wo wir doch ihr das Schwert geschenkt haben, ihr die Waage in die Hände gedrückt haben, damit sie auf die Fehler der Menschen unserer Stadt aufmerksam macht. Wir haben sie Justizia getauft, wir nannten sie Gerechtigkeit. Wenn sich zwei stritten, haben wir unser Vertrauen in ihr gesteckt. Wenn Mord begangen war, wurde sie gefragt, wer der Schuldige sei. Wer unzüchtig war, bekam seine Sünde auf ihre Waage gestellt. Wer das Pferd seines Nachbarn stahl, bekam den Schlag ihres Schwertes. Sie war unsere Hoffnung, unser Weg zur Einheit. Unsere Einheit lag in ihren beiden Händen.
Doch meine heiligen Menschen: Justizia hat uns verraten. Wir brachten ihr das Reden bei, das Essen, das Laufenlernen, die Wörter, das Halten des Schwertes und der Waage. Sie war bei ihrer Geburt nur Lehm. Nur ein Stück dreckige Erde, an die sich keiner traute, der riechen konnte. Wir, meine Adeligen und die anderen schönen Menschen unserer Stadt haben sie zu der gemacht, was sie ist. Doch die Undankbarkeit siegte. Der Teufel in Justizia tötete ihren Engel und nahm sie in seinen Bann, der sie zu einer Hure gemacht hat, wo wir doch die Heilige in ihrem heuchlerischen Lächeln sehen.“
Die Überlegung über das Urteil
„Lassen wir sie hungern!“, schrie ein Halunke aus den hinteren Reihen.
„Nein, werfen wir sie ins Meer hinein, damit sie zum Fraß der Fische wird.“, schlug ein Bauer vor.
Der Magier Astros übernahm wieder das Wort:
„Stopp, meine Damen, stopp meine Herren, nicht so übereilig. Macht euch keine Sorgen. Wir lassen die Undankbarkeit nicht ohne Strafe davonlaufen. Abrechnung ist einer der treuesten Gottesdienste und das werden wir vollbringen.“
In Justizias Augen waren Tränen zu erkennen. Sie liefen ihre Wangen herunter auf ihre Oberlippe, bis die nächsten Tropfen sie auf ihre Unterlippe hinunterdrückten . Sie schwieg und weinte. Ihre Hände zitterten vor Trauer, vor Zorn, vor Ratlosigkeit. Die Sonne schien mit einem grauen Licht auf die Stadt. Ein Gewitter bahnte sich an, die Wolken zogen die Finsternis auf ihren Schultern, doch es regnete nicht und das spürte Justizia in ihrer beengten Seele. Es blitzte, es gewitterte mehrmals. Arme Justizia, leidvolle Justizia, war das dein Verdienst für all die Taten, die deiner eigenen Natur entsprungen sind? War das der Lohn für deine Treue an diesen Menschen, denen du ein Leben lang voll und ganz vertraut hattest?
Einen großen Kreis ließ Astros um Justizia bilden. Er stieg vom Felsen ab, durchwanderte die Menschenmenge und kam neben Justizia an. Nur ein paar Schritte war sie von ihm entfernt. Jedoch sprach er lieber zur Menge als zur ihr :“Wir könnten dir alles verzeihen, Justizia, doch die Undankbarkeit ist die größte Sünde, was du uns antun konntest. Du hast die Rechte eines Fremden deiner eigenen Stadtgenossen vorgezogen. König Leon, ohne ihm du ein Nichtsnutz bist, war dir minderer wert als dieser arme, fremde Bettler aus dem Osten.
„Ihr habt mich doch erzogen, keinen Menschen vor dem Anderen vorzuziehen?“, sagte Justizia mit zitternder Stimme.
„Neiiiiinnnn!“, schrie Astros. „Du kannst vielleicht diese armen Bauern unserer Stadt mit deiner Demagogie in die Irre führen, doch mir, Astros, der nachts von Gott träumt, kannst du nichts vorgaukeln. Dem stinkenden Bettler mit den Mandelaugen aus dem weiten Osten hast du Glauben geschenkt und nicht unserem, ich betone, „unserem“ König, der uns Brot gab zum Leben, Soldaten schickte zu unserm Schutze, seine Tage und Nächte uns opferte, damit wir in Ruhe und Sicherheit leben können. Du hast dich in die Irre leiten lassen, junge Frau. In die Irre, vom Teufel persönlich.“
Ein großer Applaus wurde aus diesen Worten des Magiers mit dem Willen zur Rache an der Undankbarkeit dieser verfluchten Frau geboren.
„Ich habe den König bei der Tat mit diesen Augen gesehen, Astros. Ich bediente mich keiner Zeugen, denn ich war die größte Zeugin in jener Nacht.“, erwiderte Justizia.
Die Wolken wurden im Himmel dunkler und dunkler. Obwohl es Mittag war und es keine Sonnenfinsternis gab, roch die Luft nach Dunkelheit.
„Es müsste jederzeit regnen.“, dachte sich Justizia „und ich werde mit der Barmherzigkeit der Regentropfen meine Kraft finden.“
Alle gegen Einen
Astros lachte erniedrigend: „Mit diesen Augen? Mit diesen Augen hast du den König ertappt?! Nicht dass ich lache, nicht dass wir lachen, Justizia. Jeder weiß, dass der Teufel in der Nacht den Augen Spiele spielt, oder etwa nicht, meine lieben Mitmenschen?“
Das Volk bestätigte mit einem Grölen. „Mit diesen Augen?! Wir haben dir das Schwert gegeben, wir haben dir die Waage gegeben, damit du abrechnest, doch haben wir dir jemals beigebracht, deine Augen zu benutzen bei deinen Urteilen? Augen hat jeder , Justizia. Kinder haben Augen, Behinderte haben Augen, der fremde Bettler hatte auch Augen, aber haben wir diese Leute „Gerechtigkeit“ genannt? Nein! Denn was zählt ist das Schwert! Die Waage!, aber nicht das Auge!“
Die Menge rastete noch heftiger aus und forderte Rache an der schönen Frau.
Astros streichelte mit seiner Rückhand die Wange Justizias, sodass sie einen Schritt zurückging. Sie schaute ihn hoffnungslos an, er wiederum sie voller Macht.
„Ich habe eine Idee“, schrie Astros in die Menge. „Wenn Justizia diese Sünde mit den Augen begangen hat, muss sie dafür mit ihren Augen zahlen! Wer den König verrät, hat nichts anderes verdient, Justizia!“
Die Strafe für Justizia
Er holte aus seiner Tasche ein ätzendes Gift heraus und forderte von den Wächtern, Justizia festzuhalten. Justizia bewegte sich kaum und wartete immer noch auf den Regen, der nicht kommen wollte. Astros kam auf sie zu und schüttete das Gift in ihre Augen, die blutig weggeätzt wurden. Sie waren nicht mehr zu erkennen. Astros ätzte die schönsten Augen der Welt von einer Sekunde zur anderen weg. Die Augen der Barmherzigkeit wurden gelöscht. Die Augen des Trosts waren nicht mehr da. Die Menge feierte als ob sie einen großen Sieg bei einer Schlacht gewonnen hätten. Astros begab sich zurück auf seinen richtigen Platz neben den Adeligen.
Justizia, oh, diese arme Justizia, stand hilflos da, wusste nicht wohin, das Schwert in der einen, die Waage in der anderen Hand. Ihre Schönheit versank in der Finsternis. Es regnete nicht und sie verlor sich selbst in der Dunkelheit. Astros lächelte und schrie wieder in die Menge: „So wirst du in alle Ewigkeiten durch die Städte wandern, Justizia. Du warst, bist und bleibst unser Werk. In guten sowie schlechten Tagen. Die ganze Geschichte, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft soll sehen, was wir mit dir angestellt haben. Alle Menschen sollen sich ein Bild von dir machen. Mach dir keine Sorgen, schöne Justizia: Die Menschen werden dich weiterhin achten. Sie werden dich ehren, bis zum jüngsten Tag.“ Er lachte voller Hohn.
Es regnete nicht und der blinden Justizia wurde ein Tuch um die Augen gebunden. Sie bewegte sich nicht, gab keinen Ton von sich.
Die Entstehung der „Gerechtigkeit“
Gerechtigkeit. Gerechtigkeit um des Königs willen. So sollte der Fluss fließen. Noch einmal schufen Menschen einen Götzen. Diesmal namens Justizia zu ihren eigenen Gunsten. Noch einmal aßen sie diesen Götzen auf, als sie Hunger bekamen. Hunger bekamen auf Tod, Sünde, Neid, Rache. Denn der Mensch war und ist der Todesfeind seiner innersten Seele. Die Gerechtigkeit war und bleibt weiblich und das Volk liebt das Männliche. Ihre Augen; Ihre Augen waren die Barmherzigkeit. Das Schwert und die Waage waren ohne ihre Augen nichts wert. Justizia: Du hast dich zu sehr zum Heiligen wählen lassen, denn die Geschichte lehrt uns: Nichts, was nicht um Gottes willen geehrt wird, ist vor dem Vernichten der Dummen und Bösen sicher. Um Gottes willen. Welch schöner Gebrauch von Buchstaben. Die Freiheit um Gottes willen. Die Brüderlichkeit um Gottes willen. Die Gerechtigkeit um Gottes willen. Jeder Zweig, der den Weg zum Stamm vergisst, ist verdammt auszutrocknen und zu erblinden. Das größte Opfer der Emporhebung der Gerechtigkeit war Justizia. Arme Justizia. Ihre Dekadenz war ihr eigenes Charisma, denn der Mensch ist neidisch. Wer geehrt wird, muss vernichtet werden. So war es bei Abel, so war es bei Josef. Es waren die eigenen Brüder, die den Neid in sich trugen.
Und heute noch steht Justizia in ihrer absolutesten Ironie des Schicksals vor einigen Gebäuden, die im ihren Namen das Recht Kains in voller Legalität ausüben.
„Um Gottes willen!“