Bei mir im gleichen Stock wohnt gegenüber Frau R. – auf den ersten Blick eine nette, alte Dame. Mitte 70, klein, zierlich, graue Haare. Genau so könnte auch eine liebevolle Großmutter aussehen, meine Nachbarin aber ist alles andere als das. Weder liebevoll noch Großmutter.

So grundsätzlich ist sie nett, sie grüßt höflich, aber da hört es auch schon auf. Sie hat die Hausordnung ebenso wie das Vaterunser verinnerlicht, die Kehrwoche hat bei ihr den Stellenwert des Kirchenbesuchs. Sie ist sehr pingelig, um nicht zu sagen kleinlich und achtet penibel auf ihre Privatsphäre.

Nach bald sieben Jahren, die ich nun Tür an Tür mit ihr wohne, weiß ich noch immer nicht mehr von ihr, als dass sie alleine lebt. Freundlichkeit überfordert sie. Als ich ihr an meinem ersten Bayram im Haus Baklava vorbeibrachte, fragte sie mich allen Ernstes, was sie mir schulde.

Alles, was sie nicht gerade selbst angeht, ignoriert sie mit der Begründung, in ihrem Alter dürfe sie sich nicht aufregen, wegen ihres Herzens. Meine Nachbarin gehört zu denjenigen Menschen, von denen man immer weder liest und hört, dass sie in ihrer Wohnung sterben und es Wochen dauert, bis sie jemand findet.

Was meine Nachbarin mit Bosnien zu tun hat

Anfangs hatte ich sie noch unter „blöde Kuh“ abgestempelt und nach dem Motto „Toleranz durch Ignoranz“ abgehakt, bis ich eines Tages merkte: Sie hat Angst. Angst vor mir, die ich keine Deutsche bin, Angst vor meinen Mädels, die Kopftuch tragen, Angst vorm schwarzen Mann. Und seitdem fällt es mir schwer, ihr böse zu sein, im Gegenteil: Manchmal tut sie mir einfach leid.

An dieser Stelle wundert man sich vielleicht, wieso ich so viel über meine Nachbarin schreibe. So kurz vor dem 11.07. sind Srebrenica und Europas Rolle darin ein großes Thema und wäre Europa ein Mensch, dann wäre Europa wie meine Nachbarin. Die nette alte Damen, auf den ersten Blick liebevolle Großmutter, auf den zweiten Blick ignoranter, verbitterter Hausdrache und Angsthase. Und genau so sehe ich Europa in Bezug auf Bosnien, angefangen beim Krieg bis hin zur jüngsten Flutkatastrophe.

Was eine Großmutter auszeichnen würde

Eine liebevolle Großmutter würde einem Kind, das hinfällt, die Schürfwunde reinigen, ein Pflaster draufkleben und es trösten, der Hausdrache würde das Kind beschimpfen, wieso es denn weine.

Eine liebevolle Großmutter ist der weise, gutmütige Fels in der Brandung, der Hausdrache brennt mit einer Flamme aus dem Maul alles nieder.

Eine liebevolle Großmutter kennt jedes Nachbarkind beim Namen, vor dem Hausdrachen rennt jedes Nachbarkind davon.

Europa erinnert mich an genau diesen Hausdrachen und zwar in einer Zeit, in der das junge Bosnien mit seinen 21 Jahren eine weise Großmutter mit ihrer Hilfe, ihrem Trost und ihren Ratschlägen dringend bräuchte…

Und während die liebevolle Grossmutter im Kreise ihrer Liebsten in Würde altert und vom Leben Abschied nimmt, wird der Hausdrachen vereinsamt sterben, in der Hoffnung, dass jemand die Leiche findet, bevor sie zerfällt und anfängt zu stinken…

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1979 in Stuttgart geboren und aufgewachsen und typisches Gastarbeiterkind. Ihre Eltern kamen 1970 aus Bosnien nach Deutschland. Nach dem Abitur und Ausbildung zur Bürokauffrau ist sie seit 2006 in der Personaldienstleistung tätig. Bloggen tut sie seit ca. 2 Jahren.

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