Was für eine Anteilnahme, was für eine Fürsorge, was für hochkochende Emotionen: Nein, wenn Sie jetzt an Bürger denken, die durch die Jahrhundertflut ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, liegen Sie falsch. Wenn Sie denke, es geht um die anstehende Bundestagswahl, liegen Sie ebenso falsch.
Denn es gibt zunächst mal wesentlich wichtigere Themen, die unser gesamtes kämpferisches Potenzial binden: Beispielsweise, dass die ein Dutzend Bäume von Istanbul nicht gefällt werden dürfen – koste es, was es wolle! Unsere offenbar regierungsunlustigen, linksgewirkten Parteien haben aus den Fehlern von 2002 gelernt und in diesen Zeiten Ihre Prioritäten weit weg vom Hochwasser in die türkische Millionenmetropole Istanbul verlagert. Gut beraten von unseren türkischstämmigen politischen Vertretern – nur von bösen Zungen als „Alibi“- oder „Schaufenstertürken“ geschmäht -, haben sie angesichts der kochenden Emotionen, in denen sie sich bereitwillig und gerne selbst verloren, sogar vergessen, in welchem Land sie die Oppositionsrolle innehaben. Ich habe erstmalig die ernsthafte Sorge, dass bei der Integration dieser politischen Vertreter, zumindest der türkischstämmigen, irgendetwas schiefgelaufen ist. Vielleicht sollte man wirklich darüber denken, ob denn nicht auch Integrationskurse für sie verpflichtend sein sollten. Denn vor Scheinintegration ist auch die empörungsstärkste politische Kaste nicht gefeit.
Jedoch stehen nicht alle auf diese Weise Scheinintegrierten wie unsere politischen Vertreter links der Mitte, es gibt auch die Fehlintegrierten, deren Integration überdimensional nach rechts verrutscht ist. Das Produkt einer Fehlintegration sieht man z. B., wenn eine diplomierte Soziologin wie Frau Necla Kelek an der Seite von Thilo Sarrazin dessen Hassbuch promotet. Man sieht es auch bei Autoren wie Akif Pirinçci, die ihre bescheidenen literarischen Qualitäten zur Maximalauslastung bringen, wenn es um ihren Abscheu gegen die eigene Herkunftskultur geht. Die Texte bekommen wahrhaft eine höhere Bedeutung, so dass sie von braunem Lager gebetsmühlenartig in den Sozialen Medien rezitiert werden. Verstehen brauchen wir die Texte ja sowieso nicht, es reicht schon, wenn die Adressaten dieser verwirrten Texte es verstehen.
Selbst die Türken in der Türkei sollen assimiliert werden
Den wahren Einfluss der Schein- und Fehlintegrierten kann man nur vage abschätzen. Fest steht aber, dass die Medienlandschaft und die Politik insgesamt eine derart einseitige und radikale Position bezogen hat, dass Hunderttausende Migranten in unserem Land von heute auf morgen und wie aus einem Automatismus heraus zu undemokratischen und fanatisierten Menschen erklärt worden sind. Andersrum wurden radikale Gruppen, die nur wenig bis keine Bedeutung für die türkische Migrantencommunity haben, zu Vertretern und Sprachrohr der “freiheitlichen Türken” erklärt. Unzählige Migranten mussten miterleben, wie sie durch die öffentliche Parteinahme der neowilhelminischer Eliten und angepasster Haustürken hierzulande auf der Basis eines innenpolitischen Konflikts der Türkei angegriffen und diffamiert wurden. Dies ist aus integrationspolitischer Sicht eine sehr besorgniserregende Entwicklung.
So beobachten wir erschrocken, wie lagerübergreifend von ganz links bis ganz rechts die Gezi-Proteste instrumentalisiert werden, um Ressentiments zutage zu fördern. Wie tatsächlich in Deutschland die türkische Innenpolitik dazu benutzt wird, Migranten zu kategorisieren und zu bewerten. Wenn Migranten die einseitige Sicht der Dinge infrage stellen, müssen Sie damit rechnen, auf übelste Weise attackiert, diffamiert und sofort mit der Islamismuskeule konfrontiert zu werden. Die Anschuldigungen enden oft mit Hassmails, in denen sogar vor Gewaltdrohungen nicht zurückgeschreckt wird. Ich habe selbst Hassmails lesen dürfen, die an diverse Migranten geschickt wurden und in denen u.a. mit einer “Abrechnung nach der Revolution in Türkei” gedroht wurde. Interessant war, dass etliche Absender davon rege Kommentatoren auf einschlägigen rechtsradikalen oder islamophoben Seiten waren. Andererseits: Droht man dort nicht auch „dem System“ hier in Deutschland schon seit Jahr und Tag die „Abrechnung“ im Wege eines „Nürnberg 2.0“ an?
Keine Integrations-, sondern Segregationspolitik
Es ist nichts Neues, dass unterschiedliche Standpunkte unter Migranten zum Zwecke des Wechselns politischen Kleingelds instrumentalisiert werden. Man erinnere sich nur an die Querelen im Zusammenhang mit der Islamkonferenz, wo bewusst durch die Einbeziehung islamfeindlicher Persönlichkeiten von vornherein ein Scheitern billigend in Kauf genommen, ja möglicherweise sogar provoziert hat. Diese Spielchen sind schon bekannt und enden “fast“ immer damit, dass jede einzelne türkische oder muslimische Gemeinde irgendwann mal ihren Anteil an den immer gleichen Anschuldigungen abbekommt. Es sei denn, man brüstet sich mit linientreuer „humanistischer“ Gesinnung, distanziert sich von bösen „Rest” und profiliert sich durch provokative Angriffe als hervorragend intriganter, oh Entschuldigung, ich meinte natürlich integrierter Migrant.
Wirklich neu ist jetzt, dass die Politik die Diversität in Istanbul entdeckt hat und ein Politikum daraus macht wie nie zuvor. Innenpolitik mit der politischen Vielfalt der Türkei zu machen ist deshalb ein großer Fehler, weil man hier dadurch auf Migranten ein Freund&Feind-Schema projiziert, das eher segregiert als integriert. Im Stile des „Begriffs des Politischen“, wie ihn der Jurist und Säulenheilige der rechtsgerichteten „Jungen Freiheit“, Carl Schmitt, definiert hat, erklärt man jeden nichtsäkularen Türken zum Feind – ganz so, als würde sich Deutschland selbst als kemalistischer Staat definieren, der für diese Staatsdoktrin Weltgeltung beansprucht. Wie sollen Migranten aber Parteien gegenüberstehen, denen Sie sich inhaltlich zwar nahe fühlen, sich jedoch durch deren Türkeipolitik ausgegrenzt sehen?
Die neue Realität
Vielleicht ist auch dieses Verhalten noch die Konsequenz aus einer veralteten Sichtweise gegenüber Migranten. Falls dies so sein sollte, liegt hier eine sehr große und umgehend zu korrigierende Fehleinschätzung vor. Gerade heute findet ein Umbruch statt, der alle alten Klischees über Migranten über Bord wirft.
Heute sehen wir selbstbewusste junge Migranten, die ihr Deutschland schätzen und lieben. Sie haben großen Respekt vor diesem Land und möchten an dessen Gestaltung aktiv teilhaben. Sie sind hier geboren, sie sind gebildet und sehen beide Kulturen als einen Teil ihrer selbst an.
Anders als die älteren Generationen wissen Sie ganz genau, was sie wollen und was sie nicht wollen.
Sie lassen sich auch ungern in eine Ecke drängen und bevormunden. Sie spüren, dass sie manchmal zu Entscheidungen gezwungen werden – wie die Optionspflicht – die sie nicht gewillt sind, zu fällen. Sie wollen beides sein, deutsch und türkisch, muslimisch und demokratisch. All dies ist ein unzertrennlicher Teil ihrer Identität.
Ihre Prioritäten liegen nicht in Istanbul, sondern in Berlin.
Sie sind nicht scheinintegriert, auch nicht fehlintegriert, sie sind voll Integriert.
Und wenn die Parteien diese neue Realität sehen könnten, wären sie in der Gegenwart angekommen.
Herzlich willkommen schon mal im Voraus!
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