Bildquelle: Mohamed Boualam | CC BY-SA 3.0 | Muslimischer Friedhof bei Sonnenuntergang in Marrakesch / Marokko
Während des Flugs sprachen wir nicht viel miteinander. Munirah schien über irgendetwas nachzudenken. Ich hatte sie darauf angesprochen, aber sie rückte nicht mit der Sprache raus. Also ließ ich es sein. Eigentlich hatte ich mir das ganz anders vorgestellt. Vor Vorfreude würden wir die ganze Zeit nur trällern und die Passagiere den Flug über mit unserem Gequatsche nerven. Doch ich irrte mich.
Der Flug verlief ohne Turbulenzen und die Landung etwas holprig. Einige gerieten in Panik und ich sah Munirah nur gereizt die Augen verdrehen. Überreaktion, dachte sie sich. Als wir in Toronto gelandet waren und aus dem Flugzeug ausstiegen, machte ich mir gar nicht die Mühe, meine Koffer abzuholen, was äußerst seltsam für mich war. Stattdessen steuerte ich geradewegs auf den Ausgang zu und setzte mich in ein Taxi, das direkt davor stand. Die Füße schienen mich irgendwohin zu befördern und auf meine Befehle nicht zu reagieren. Munirah hatte ich aus dem Blickfeld verloren. Ich machte es mir auf der Rückbank bequem und sagte dem Fahrer: „Bitte zum Stadtmuseum.“
Was hatte ich vor? Ich wusste es selber nicht. Wieso hatte ich es so eilig, dorthin zu kommen? Dafür würde ich noch so viel Zeit haben. Oder doch nicht?
Der Fahrer nickte gehorsam und fuhr los.
Ich beachtete gar nicht die schöne und moderne Stadt, auf die ich eigentlich so gespannt war, sondern starrte auf den Hinterkopf des Fahrers. Die Fahrt dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Völlig Gedankenlos!
Das Auto kam geschmeidig zum Stehen.
„So Miss, wir sind da. Das macht dann zwölf Dollar.“ sagte er in einem freundlichen Ton, doch ich beachtete ihn nicht weiter, gab ihm das abgezählte Geld und stieg aus.
Überall Moos
Ich sah direkt vor mir das überragende Gebäude. Das Museum. Irgendwie hatte ich es mir anders vorgestellt. Nicht so entstellt und grau. Als ich im Internet recherchiert hatte, sah es ebenfalls modern und kantig aus. Das, was ich vor meinen Augen hatte, war aber eher … ruinenhaft. Vielleicht hatte ich das falsche Museum gegoogelt! Ich ging auf das graue, verzierte Gebäude zu und fragte mich nicht, was ich da eigentlich wollte. Jeder normale Menscheninstinkt würde mich in die Flucht treiben. Nicht aber meiner! Ich ging hinein. Die Tür knirschte und fiel langsam mit einem lauten Knarren zu. Rechts an der Kasse saß eine alte Dame, die mich unergründlich anschaute. Ihre langen, schneeweißen Haare waren zu einem Zopf gebunden, was ihre spitze Nase zur Geltung brachte. Es sprang bei der Betrachtung sofort ins Auge. Ich ging zu ihr hinüber und kaufte eine Eintrittskarte. Der Verkauf verlief ebenfalls tonlos. Keiner von uns sagte auch nur ein Wort.
Ich wollte in die erste Abteilung gehen. Irgendein Ziel hatte ich vor Augen, nur es war mir in diesem Moment nicht klar, welches das war. Ich schaute mich um und sah vor mir die Moos überzogenen Wände der Eingangshalle. Die Fenster waren ebenfalls mit Moos überdeckt, weshalb kein Licht von Außen durchdringen konnte. Mit langen, schwarzen Gardinen umrandet, verdüsterten sie die ganze Halle. Eine spiralförmige, brüchige Treppe führte ins ungewisse Dunkle. Ich konnte nicht erkennen, was dort oben war. Die Decke war ziemlich hoch und mit einem unergründlichen Muster verziert. Man konnte es nicht erkennen, da diese ebenfalls von Moos überzogen war.
Meine Schritte hallten auf dem Marmorboden, der mit Schlamm übersät war.
Wer war die Alte?
Ich hörte jemanden ein gewaltiges Schloss verschließen. Um zu sehen, ob ich mich nicht täuschte, wirbelte ich um mich selbst herum. Doch was ich sah, war die alte, runzlige Frau, die inzwischen mit wütenden Augen auf mich zusteuerte, die Hände im Würgegriff haltend. Ihre Schritte waren klein, aber schnell. Mit geduckter Haltung, beinahe gebückt, kam sie auf mich zu. Sie trug abgetragene, dunkelgrüne Kleider, welche sich mit der Farbe des Mooses zu vermischen schienen. Ich wollte weglaufen, doch meine Füße reagierten nicht. Sie waren wie angewurzelt. Stattdessen kam sie immer näher. Ich wollte schreien, doch kein Laut kam aus meiner Kehle heraus. Nun hatte sie mich erreicht. Ihre von Zorn erfüllten Augen durchdrangen mich und sie schmiegte ihre faltigen Hände um meinen Hals. Die Luft wurde mir zugeschnürt. Meine Augäpfel erröteten vor Luftnot und begannen hervorzutreten. Die alte Frau presste ihre schmalen Lippen stark zusammen, weitete ihre hasserfüllten, tiefliegende Augen und schnitt mir immer mehr die Luftzufuhr ab. Ich sah ihren Mund zu einem zufriedenen Lächeln kräuseln. Sie genoss es. Sie genoss, mich langsam sterben zu sehen!
Schweißgebadet erwachte ich und verstand nicht, wo ich war. Hastig richtete ich mich auf, tastete meinen Hals ab und schnappte gierig nach Luft. Mein Herz raste und hatte nicht vor, sich zu entspannen. Doch dann begriff ich, dass ich in meinem Zimmer war. Ich hüpfte aus dem Bett und rannte hinüber zum Lichtschalter neben der Tür.
Anscheinend hatte ich mir zu viele Gedanken gemacht über die Nachrichten, die ich gesehen hatte und das tote Mädchen. Doch woher kam diese Frau? Sie kam mir so lebendig vor und ich hatte den Eindruck, sie würde mich kennen. Irgendetwas musste ich ihr angetan haben, sodass sie mich töten wollte. So ein Quatsch! Meine Phantasie ging mit mir wieder mal durch. Ich umklammerte mein Gesicht mit den Händen und spürte das Glühen meiner Wangen. Meine Augen wanderten durch das Zimmer, um sicherzugehen, dass ich alleine war.
Es war nur ein Traum! Nur ein Traum!
Ich ließ mein Gesicht los, schaltete jedoch das Licht nicht aus und ging hinüber zum Bett. Diese Nacht würde ich kein Auge mehr zu kriegen, also beschloss ich, meine Abendlektüre nachzuholen, auch wenn sie bis zum Morgengrauen andauern würde. Das hatte ich jetzt nötig!
Ich musste mich von den grausamen Gedanken, die in meinem Kopf spuckten, ablenken. So kurz vor meiner Abreise durften mich keine Albträume heimsuchen.
Es blieben noch anderthalb Tage. Warum nur musste ich jetzt so etwas träumen? Was schreckte mich so ab? Machte ich mir unbewusst Sorgen darüber, dass ich dort nicht zurechtkommen würde? Eigentlich freute ich mich drauf. Und wie! Von klein auf hatte ich davon geträumt. Ein Widerspruch!
Ich begann, meinen neuen Roman zu lesen, doch ich konnte mich auf keine Zeile konzentrieren. Meine Gedanken drehten sich um meinen Traum. Hatte ich diese Frau schon irgendwo gesehen? Vielleicht im Fernsehen. In Wibaux war es ausgeschlossen, da ich dort jeden kannte. In so einem Dorf war das auch kein Wunder.
Was hatte ich in diesem Museum verloren und wieso hatte ich so einen Drang, dorthin zu gehen, obwohl mein Inneres davor abschreckte? Was war das, das mich dorthin gezogen hatte?
Waren das die Folgen der Rückfahrt von vorhin, die mich so nervös gemacht hatte? Ich wurde aus mir selbst nicht schlau. Abermals konzentrierte ich mich auf die Geschichte meines Romans, doch nach zehn Seiten wusste ich immer noch nicht, worum es ging und wer die Hauptfigur war.
Irgendwann schlief ich zwischen den Zeilen unbemerkt ein.