Jeder Mensch beginnt irgendwo des Erdteiles sein Leben. Die Welt ist geografisch eingeteilt. Die Zeit hat unsere Weltkarte mit bestimmten Grenzen versehen. Durch die östlichen Grenzen wird das Land, das mal das Heimatland meiner Eltern war, vom Irak, Iran und dem Syrien getrennt. Die Heimat meiner Eltern ist nun mein Ursprungsland. Die Türkei. Umfasst ist sie von Meeren. Dort, wo sich Meere wie eine große Decke über die Flächen ziehen, verbergen sie Grenzen. Ich möchte mich nicht in Grenzgebieten aufhalten, ich widme mich den Meeren.
Dort wo Grenzen verborgen werden,
fühlt sich der Mensch heimisch.
Das Meer ist einzig und allein in der Lage,
jedem ein wenig Heimat zu geben.
Wenn der Mensch entlang einer Küste bei jedem seiner Schritte seine Gedanken bewusst wahrnimmt, dann fühlt er, das Unendliche und das Endliche gleichzeitig. Wenn ich meine Blicke in die Richtung des Meeres konzentriere, fasse ich das Unfassbare der Unendlichkeit, denn ich kehre den Grenzen meinen Rücken.
Wenn Du es leid bist,
in Grenzgebieten langsame Schritte zu gehen,
dann zögere nicht,
kehre den Grenzen Deinen Rücken.
Ich weiß, dass das Meer den Menschen akzeptiert. Nämlich so wie er ist. Das Meer fragt nicht danach, wer wir sind, woher wir kommen und wohin wir gehen. Wir fühlen uns ihm zugehörig. Unsere Ängste verschwinden, denn es verspricht uns seine grenzenlose Freundschaft.
Meere verbergen Grenzen. Weil sie das verbergen, verstecken und verheimlichen, wovor wir flüchten, lieben wir das Meer. Deshalb zieht es uns jedes Jahr dahin, zu ihm, zum stillen aber auch aufgebrausten Meer. Dabei ist es nicht maßgebend, ob Winter, bei eisiger Kälte, Sommer oder bei unerträglicher Hitze. Das Meer ist und bleibt in seiner Funktion, das gleiche. Ein treuer Freund ist das Meer, aus alten Zeiten. Es hört zu, wenn es was zu erzählen gibt. Wenn Worte sich zu einer Geschichte empor bilden, ändert es sich kaum. Es passt sich nicht an. Es hat seine eigenen Spielregeln.
Im Winter setze ich mich mit ihm auseinander. Im Winter lasse ich meine Wut in das Meer hineinfließen. Lasse manche meiner Tränen, in ihn hineinfließen. Ich lasse ein Teil von mir bei ihm. Verborgen und versteckt möchte ich meine Ängste wissen. Ich verspreche mir und ihm, dass ich unbedingt wiederkommen werde, vielleicht an einem warmen Sommermorgen. Ich verspreche ihm, unser Wiedersehen. Denn kein Winter hält lange an.
Wenn der Frühling sich einmal auf den Weg macht, verschwindet gezwungenermaßen der letzte Schnee auf den Straßen.
…finde den Weg zum Meer,
das Meer, das viel verbirgt,
von dem was es alles weiß,
nie preisgibt.
Und bei jedem Wiedersehen erzähle ich ihm, was es bedeutet, Grenzen zu erfahren, denn das Meer, der mein Freund ist, kennt sie ja nicht. Ich erzähle ihm, wie Menschen sich gegenseitig in Schranken weisen.
Wie sie mir sagen, wer ich zu sein habe,
wem ich wie zu folgen, sogar wen anzunehmen und abzustoßen habe.
Von den Kämpfen der Egoisten…selbsternannten Helden der Kriege.
Von der Hilflosigkeit der Idealisten.
Von den Grenzen, die jenseits von ihm, untermauert in ihrer Wichtigkeit,
unumstritten existieren.
Ich erzähle ihm von meiner Kindheit. Bloßes Schweigen, naives Glauben und ein unendliches Hoffen und Warten.
Ein guter Zuhörer ist das Meer, ein guter Zuhörer. Allein das macht ihn so liebenswert.
„Schweigsame Kindheitsjahre verletzen mich, die Erinnerung tut manchmal weh“, gestehe ich ihm. Solange ich zu ihm kommen kann und er mir zuhört, dann heißt es: geteiltes Leid, ist halbes Leid!
Außerdem habe ich jetzt, wo die Kindheit langsam verblasst, aber lebendige Erinnerung hinterlässt, umso mehr zu erzählen. Vielleicht bin ich deshalb zudem geworden, was ich jetzt nun einmal bin.
Nicht wütend oder nachtragend solltest Du sein.
Hoffnung und Zuversicht,
ist für Dich und immer Dein.
…damals als die Kinder in der Klasse, in einem schönen Kreis, an jedem Montagmorgen, erzählen durften, was sie am Wochenende mit ihren Eltern erlebten, musste ich schweigen. Nicht, weil ich keine Eltern und Erlebnisse mit ihnen hatte oder kein Wochenende, sondern einfach, weil ich keine Worte hatte. Ich war weder Waisenkind, noch ein Arbeiter ohne Wochenende. Ich war ein Kind, das zum Schweigen verurteilt war. Wortlos schaute ich meiner Kindheit nach. Wie meine Kindheit an mir vorbeiraste und mir versprach, dass ich sie unbedingt wieder finden würde, wenn ich sie doch irgendwo vermisste.
Im Kreis war ich aufgenommen aber vom Gespräch ausgeschlossen. Mir fehlten die Worte. Heute habe ich so viele, dass ich kaum noch aufhören möchte, zu schreiben und zu erzählen. Ich will erzählen.
„So, wie du mich kennst, kennt mich niemand“ verrate ich ihm. Er antwortet mir, indem er sanft den Sand unter und über meinen Füßen hinwegschwemmt.
Ich stelle ihm ein paar Fragen, „Weißt du, wie es ist, als Fremd zu gelten? Kennst du das Gefühl, dass du viel zu erzählen hast, aber dennoch schweigst? Kannst du mir sagen, warum meine Haarfarbe, meine Augen, meine Identität entschlüsseln, darstellen, wer und was ich bin?“
Schweigend hört er weiter zu. Weil er meine Sehnsüchte kennt, spreche ich nicht über sie. Ich möchte ihn doch verschonen.
Meine Sehnsucht, eine noch nicht definierte, widme ich der Unendlichkeit. Ich nehme Abschied von ihm und jedes Mal fällt die Trennung schwer. Ein Zusammenkommen ist ja gleichschnell auch eine Trennung. Das kündigt das Meer ja mit jeder Welle an. „Willkommen und Abschied“ wurde es in der deutschen Literatur mal zu Recht genannt.
Wenn ich in die Tiefe der Meere blicke, weiß ich; Freiheit ist blau. Frieden ist blau. Ich nehme die Farbe von ihm an und weiß mein Innenleben ist blau. Tief im Inneren bin ich blau. Deshalb glaube ich auf gut deutsch, blauäugig. Auch wenn andere, nun mich als Fremde, als Schwarz oder braun typisieren. Diese anderen sollten genauestens wissen; meine Farbe ist blau, niemals grau, schwarz oder braun. Niemals eintönig. Vielfältig ist mein Innenleben. Dieselben sollten wissen, dass ein Mensch niemals aus seiner Augen-, Haar- oder Hautfarbe besteht. Niemals ist der Mensch eine Farbe allein… So wie die Sprachen, Lieder, Trauer oder Feuer in seinem Herzen, so vielfältig sind auch seine Farben.
An diejenigen, die gerne typisieren und Alle liebend zu Einem zusammenfassen:
Das Meer ist blau und unendlich seine Tiefe.
Unmessbar seine Weite und stillen Worte,
für einfache Menschenblicke!
So geht es vielleicht vielen Menschen, wenn sie sich mit dem Meer treffen und sich im Meer verlieren. Sie nehmen die Farbe blau an.
Sobald er, der Mensch, aber dieser Unendlichkeit den Rücken dreht, sind sie wieder da, die erkämpften Grenzen. Sie sind fassbar und spürbar. Sie sind nicht einfach gesetzt, sondern wurden erkämpft. Blutige Kämpfe sind die Väter der Grenzen. Deshalb drehe ich dem Meer, der in ihm verborgenen Unendlichkeit, Grenzenlosigkeit und seiner Weisheit, nie den Rücken. Ich trage das Meer in mir, in meiner unmittelbaren Nähe.
Unter den Menschen, die nicht zuhören können, die fragen, aber ungern antworten, die gerne erzählen, verstanden werden wollen, selbst aber nicht dazu bereit sind, zuzuhören und den Versuch unternehmen, zu verstehen. Wollen und nehmen, aber gleichzeitig zu geizig sind, um zu geben…hier unter der Menge ist die Wahrheit eines Jeden versteckt.
Unter solchen paradoxen Umständen soll ich alleine, mich exakt definieren!
Ob und wie das möglich ist, werde ich bestimmt noch herausfinden.
Es sei denn, ich bin selbst ein Paradox oder bin auf dem Weg,
mich zu einem Paradox zu entwickeln.
Im Unbewussten schleichend, trotz des Meeres, nebenan in mir!
Deshalb ist der Mensch einsam unter seinen Artgenossen. Fragend und schweigend irrt er hin und her. Meint aber sprechen und zuhören zu können. Grenzt sich aus, wenn er Grenzen erfährt.
Wenn er aus dem Ganzen genommen wird und als anderer ein “Fremder“, definiert wird, dann nimmt er sich das Recht aus dem Recht, nicht nur sich selbst als“ Fremder“ zu betrachten, sondern betrachtet auch andere, in der Relation zu seinem Selbst ,als eben „Fremde“, wie er selber ja einer ist. Der Mensch birgt in sich das Bedürfnis zum Ganzen zu gehören. Ein Teil des Ganzen zu sein. Das Meer bietet ihm die Chance ein Teil von sich selbst wiederzufinden: in seinen tiefen blauen Gewässern.
Mir hat man das Recht genommen, ein Teil des Ganzen zu sein.
Nun nehme ich mir das Recht, aus meinen Teilen, ein Ganzes zu definieren, nämlich mich, Kein Name. Kein Nachname. Keine Herkunftsorientierung. ….