© Saliha Balkan, bearbeitet von DIB

In Istanbul im Bezirk Cerrahpasa, angrenzend zu Samatya, verbrachte ich die  letzten drei Tage  meines Kurzurlaubs.

Eine alte Verwandte einer Bekannten nahm uns in ihrer Wohnung auf. Sie, ursprünglich aus Malatya um die 70 Jahre alt, hat sehr gute nachbarschaftliche Verhältnisse. Diese sind, im hohen Alter und vor allem, wenn man verwitwet ist, von großer Bedeutung. Es ist immer jemand da, es wird nie langweilig, auch wenn jede von ihnen seine eigene große Wohnung hat. In diesen Wohnungen lebten sie einst mit Mann und Kindern, nun leben sie alleine. Ihre Kinder sind inzwischen verheiratet und die Ehemänner tot. Hayriye, unsere türkische Gastgeberin ruft ihre armenische Nachbarin Sülbiye nie beim Namen sondern nennt sie „Teyze“ (Tante), dabei ist Sülbiye nur 4 Jahre älter als sie. „Hayriye hat aber auch schon die Enkelkinder ihrer Kinder gesehen, sagt Sülbiye, eigentlich ist sie die ältere“. Es wird gelacht. Die Serien werden gemeinsam geguckt und permanent kommentiert. Die Bösen werden verflucht und die leidtragenden werden beweint.  Irgendwann steht Sülbiye auf und sagt, ich gehe jetzt. Den Ehemann sollte man nicht allzu lange zuhause warten lassen, fügt sie hinzu. Als ich ihr sage, dass ich das schön finde und ihnen weiterhin ein schönes Eheleben wünsche, werde ich ausgelacht. Auch ihr Mann ist schon längst tot. An den 3 Tagen durfte ich mir ansehen, wie so eine Nachbarschaft aussieht. Ich war verblüfft. Es ist immer was los und sie streiten sich auch, die beiden sind wie „Hacivat und Karagöz“ . Eigentlich necken sie sich nur. Während unsere türkische Gastgeberin Hayriye, trotz dass sie aus Malatya kommt, ein Istanbuler türkisch spricht, verwendet ihre armenische Nachbarin Sülbiye einen Dialekt. Sie ist eine orthodoxe Armenierin, die ursprünglich aus der türkischen Stadt Kayseri kommt. Dementsprechend spricht sie auch und hat mich ständig zum Lachen gebracht, denn ich bin etwas mit dem Kayseri Dialekt vertraut, es weckt Erinnerungen in mir, lustige Erinnerungen.

An einem Abend war die ältere Schwester von Sülbiye da, eigentlich wohnt sie nicht dort, sie wohnt nämlich in Besiktas. Der Grund für ihr Kommen ist ein Todesfall, eine Beerdigung sollte am Freitag in der armenischen Kirche stattfinden, angereist war sie ein paar Tage vorher. Sie saß im Nebenzimmer und schaute ihre eigene Serie, Sülbiye und Hayriye schauten wiederum eine andere Serie und saßen im anderen Zimmer. An Fernsehern schien es in diesem Haus nicht zu fehlen – beste Ausstattung. So saßen die Frauen vor der Röhre in verschiedenen Zimmern und riefen sich während der Werbung zu, ob sie noch einen Tee trinken wollen oder was naschen. Ich pendelte zwischen den zwei Fernsehzimmern, um sie näher kennen zu lernen und mich mit ihnen zu unterhalten, schließlich bin ich auch nur Gast und auch ein wenig neugierig.

Eines Abends sind wir früher nach Hause gekehrt und nun war eine weitere Nachbarin da. Sie musste hin und wieder erklären, worum es genau in der Serie geht, denn Sülbiye und Hayriye schienen einigem nicht ganz zu folgen. Ich traute mich erst gar nicht Fragen zu stellen, denn diese Serien kenne ich gar nicht.

Ich konnte nur einmal einen Kommentar machen wie folgt: der Hauptdarsteller sieht überhaupt nicht gut aus! Die Antwort kam von Sülbiye: „Ach was verstehst du schon von gutaussehenden Männern, naja wenigstens eine weniger“. Sie und alle anderen Frauen verehren diesen Mann, da tut es ihnen gut, wenn eine ihn nicht so hübsch findet. Das war der Lacher für mich. Angefangen von Hülya Avsar bis Ibrahim Tatlises und Orhan Hakalmaz und vielen anderen türkischen Künstlern waren Themen vorherrschend, da fühlte ich mich wie in einem Magazinprogramm. Eines haben Sülbiye und ich gemeinsam, wir können Roxelana (Haseki Hürrem Sultan) nicht leiden.

Sülbiye geht jeden Morgen zu der armenischen Kirche, die unmittelbar in der Nähe ihrer Wohnung liegt. Fotos darf  ich laut Personal nur von außen machen. Im Garten und in der Kirche selbst ist  das Fotografieren verboten. Den Grund konnte man mir nicht nennen. „Es ist uns so übertragen worden, den Grund kennen wir auch nicht“, lautet die Antwort des Pförtners. Für mich eine ganz klare diplomatische Antwort. Die politischen Spannungen werden weitestgehend ausgeblendet. Vermutlich wollte Sülbiye sich  deswegen nicht  von mir interviewen lassen. Sülbiye ist aus meiner Sicht eine assimilierte Türkin mit armenischen Wurzeln. Sie und ihre Familie sind vor 100 Jahren schon in Kayseri sesshaft gewesen. Alleine wie sie redet und wie sie religiöse Floskeln benutzt, ist nicht zu unterscheiden von einer durchschnittlichen Muslima. Hayriye erzählt uns am letzten Tag beim Frühstück, welche Geschichte Sülbiye hat. Meine Bekannte fragt, ob es denn das Genozid gegeben hat. „Natürlich hat es den gegeben“, antwortet Hayriye. Ich weise Hayriye darauf hin, dass in der Türkei die Sprache von einem „sogenannten Genozid“ ist. Sie guckt verwirrt. Ich merke, sie weiß nicht wirklich, was ich meine. Zu viele Serien geguckt, da sind politische Themen wohl zu kurz gekommen. Sie allerdings spricht von den kleinen Geschichten, die die Familie von Sülbiye betrifft. Diese zu pauschalisieren gelten nicht, sind jedoch auch sehr interessant. Bei Sülbiye hat eine Vermischung in der Familie stattgefunden, sie hat türkische Urahnen, Verluste haben sie erlitten. Alles andere bleibt mir verborgen. Bei all dem Humor, bei all der Wärme, gab es immer eine gewisse Vorsicht, eine distanzierte Haltung, die ich an den 3 Tagen nicht brechen konnte und wollte. Ihre Positionen zu anderen Themen konnte ich sehr gut entfachen und es gab heiße Diskussionen, aber diese würden jetzt den Rahmen sprengen.

Vielleicht ist zum Schluss noch zu erwähnen, dass es nicht wichtig zu sein scheint, welcher Religion welcher Ethnie und welcher Kultur man in der Türkei angehört, solange die menschlichen Beziehungen normal verlaufen. So, als seien geringe Unterschiede, jedoch viele Gemeinsamkeiten vorhanden. Sülbiye und Hayriye machen es vor, sie unterhalten sich über Serien, Magazinprogramme, singen zusammen türkische Lieder, streiten und necken sich, aber Politik wird außen vor gelassen. Wem würde es überhaupt was nützen? Warum sollten sich Sülbiye und Hayriye Gedanken darüber machen, wer hinter dem Attentat von Hrant Dink steckt, welche politischen Verschwörungen es gab und wie es sich mit dem Gesetz des Türkentums (Paragraph 301) in der Türkei verhält?

Bereits bei der Verleihung des Henri Nannen Preises sagte Hrant Dink folgende Worte: „Wir Journalisten können es nicht jedem recht machen, es wird immer welche geben, die sich von unseren Worten gestört fühlen…….“

Zweifelsfrei gehörte der Ultranationalist und Rechtsanwalt Kemal Kerincsiz zu denjenigen, die ihm gegenüber ungemütlich wurden. Ich halte Kerincsiz für einen der Verantwortlichen, der Hrant Dink keine Ruhe gegeben hat. Hat er ihn doch mehrmals angeklagt wegen Verstoß gegen 301. Völlig verkannt, dass Hrant Dink nicht nur einer der besten Journalisten in der Türkei war, sondern  auch  eine wichtige Vermittlerrolle zwischen der türkischen und der armenischen Diaspora hätte haben können, wurde er zur Zielscheibe gemacht. Wer auf ihn geschossen hat oder wer den 17-jährigen dazu verleitete, spielt für mich keine Rolle. Für mich sind Handlungen  wie von Kemal Kerincsiz unverzeihlich und schaden der gesamten Gesellschaft. Das  Aufeinander-Hetzen der Türken und Armenier und Vorschieben des Türkentumgesetzes halte ich für abscheulich.

Der Slogan „wir sind alle Hrant Dink“ wurde oft kritisiert, auch in meinem nahen Umfeld.
Selbst aus dem Mund einer älteren türkischen Dame hörte ich: aber er soll gesagt haben, dass türkisches Blut schmutzig ist. Wer das Leben von Dink liest und sich ein wenig mit ihm beschäftigt, wird merken, dass mit ihm eine Hoffnung davon getrieben wurde. Jegliche Hoffnung, dass diese Genozid-Diskussion eine andere Qualität hätte erhalten können und peut a peut Frieden gebracht werden sollte durch Dialog, Aufklärung und Diskussion zwischen den beiden Parteien, all dies ist ebenso geschmälert worden. War es doch Hrant Dink, der für beide Seiten Gedenkminuten eingefordert und die Opfer geehrt hat.

Ein Gedicht von Hrant Dink endet mit diesen Worten: „Biz yaşadığı cehennemi cennete çevirmeye talip insanlardandık.“

„Wir waren Menschen, die es sich zum Ziel gemacht haben, das Höllenleben zum Paradies umzuwandeln“.

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Hrant Dink (Porträit)

Hrant Dink, geboren am 15.September 1954 in Malatya, Südosten der Türkei, war christlicher Armenier mit der türkischen Staatsbürgerschaft.

Seine Mutter, Gilvart, war in einer kleinen Provinz von Sivas geboren. Seine Eltern zogen im Jahre 1961 nach Istanbul, wo sie sich kurz darauf scheiden ließen.

Hrant und seine beiden Geschwister kommen nach der Zersplitterung der Familie in ein armenisches Waisenhaus in Gedikpasa.

Er war der Ansicht, dass die Armenier in der Türkei viel zu sehr unter sich leben und schlug vor die Stimme der Armenier bekannt zu machen, um gegenseitigen Vorurteilen und der Abschottung der armenischen Minderheit in der Türkei vorzubeugen.

Mit der Unterstützung des armenischen Patriarchates  gründete er die türkischsprachige Wochenzeitung „Agos“ und veröffentlicht die 1. Auflage  am 5. April 1996. Dink ist nicht nur Journalist und Gründer  dieser Zeitung sondern auch Chefredakteur und Herausgeber. Nebenbei schrieb er auch in der türkischen Zeitung „Zaman“.

Seine Artikel beinhalten vorwiegend den Aufruf, dass alle ethnischen Gruppen in der Türkei für ein gemeinsames und friedliches Miteinander kämpfen sollen.
Der armenischen Diaspora legt er nahe, den Vorfällen um 1915 nicht mehr den Namen des Genozides zu geben, wird jedoch im Oktober 2005 selbst angeklagt aufgrund des Paragraphen 301 (Beleidigung des Türkentums).

Er war Mitglied der kleinen armenischen Gemeinde des Landes.  
Nach seinem Abitur studiert er in Istanbul Zoologie.
Kurz darauf heiratet er mit Rakel, mit der er gemeinsam im Waisenhaus aufgewachsen ist.
In einigen Gemeindezeitungen begann er seine journalistische Karriere, worin er Bücherrezensionen verfasste. Danach folgten Korrekturen an Medien, in denen falsche Nachrichten veröffentlicht wurden.  
Dink hat im Jahr 2006 die  Auszeichnung des Henri-Nannen-Preises erhalten wegen seinem Engagement für die armenische Minderheit in der Türkei.

Hrant Dink erklärte  in einem Interview mit Welt.de, worum es sich bei dem Missverständnis „schmutziger Blut“ handele. Seine Aufforderung an die Armenier war die Feindschaft mit den Türken zu beenden, weil dies das Blut der Armenier vergifte. Mit  vergiftetem Blut meine er das armenische Blut, was alleine durch die Feindschaft entsteht.

Gegen Dink liefen vier Verfahren. Das erste Verfahren lief wegen Beleidigung des Türkentums, nach Paragraph 301. Das zweite wegen versuchter Beeinflussung der Justiz, da er das Urteil als ungerecht bezeichnet hatte. Das dritte in der türkischen Stadt Urfa, wo ihm vorgeworfen wurde, auf einer Konferenz „ich bin nicht Türke, sondern türkischer Staatsbürger“ gesagt zu haben. Das vierte und letzte Verfahren aufgrund einer Aussage in einem Interview, wo er das Armenienmassaker um 1915 als „Genozid“ bezeichnet hätte.

Hrant Dink kam bei einem Attentat durch einen 17-jährigen, Ogün Samast, ums Leben.

Auf der Trauerfeier, es nahmen rund 100.000 daran teil. Es wurde der Slogan benutzt: „Wir alle sind Armenier“ und „§301 ist der Mörder“.

Dies empfand ein Journalist aus Sinop, Mete Cagdas,  als Beleidigung gegen das Türkentum und erstattete dagegen eine Anzeige.
Portrait geschrieben am: 25.7.2007

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Geboren in Berlin, Deutsche mit türkischen Wurzeln, MA-Publizistin mit dem Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit, Erziehungswissenschaftlerin mit dem Nebenfach Psychologie (Abschluss 2010).

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