Dann formte sie wieder ihre schmalen Lippen zu einem Laut. „Schätzchen, bitte ruf mich wenigstens einmal am Tag an, okay? Ich mache mir jetzt schon Sorgen. Du bist da so ganz allein.“ Ich spürte die Tränen sich in ihren Tränensäcken ansammeln.
„Mama, wenn du willst, werde ich dich auch zweimal am Tag anrufen, nur damit dieser Sorgenblick schwindet. So was brauchst du mir gar nicht zu sagen. Und du brauchst dir auch keine Sorgen zu machen. Schließlich ist Munirah auch da und tausende andere Studenten. Mach dir keinen Kopf. Ich kann auf mich aufpassen.“ versuchte ich sie zu beruhigen. Ich würde nicht in das Flugzeug steigen können, wenn sie ihren besorgten Gesichtsausdruck nicht loswerden würde.
Ich sah aus dem Augenwinkel, dass sie sich über meine Wörter freute. Obwohl ich ihr mehrmals bewiesen hatte, dass ich nicht die Art Tochter war, die ihre Eltern, sobald sie aus dem Haus gezogen war, vernachlässigen würde, machte sie sich Sorgen, ich würde aus irgendwelchen Gründen dazu mutieren.
Jetzt legte ich ebenfalls einen Arm auf ihre Schulter, um sie etwas zu trösten und ihr ein sicheres Gefühl zu geben.
„Du kannst dich auf mich verlassen, und das wirst du immer können. Ich bin deine Tochter.“
„Oh, Schatz. Ich weiß, ich weiß. Wie dumm von mir! Tut mir leid.“ Sie umarmte mich für eine Weile, als wir an der untersten Treppe angelangt waren und zog mich dann von sich, so dass ich ihr in die Augen schauen konnte.
„Ich freue mich für dich und ich weiß, du freust dich auch. Dein Traum ist in Erfüllung gegangen. Du wirst Ägyptologie studieren. Ich will dir diesen Moment nicht verderben. Alles soll schön sein.“ Eine Träne lief über ihre linke Wange und dann eine über die rechte, während sie mich fest umschlungen hielt.
Sie kam mir jetzt wie ein kleines Mädchen vor, das ihre Lieblingspuppe weggeben sollte. Meine Tränensäcke füllten sich jetzt auch. Ich versuchte sie zurückzuhalten, doch es war unmöglich.
„Ach, Mum. Ich vermisse dich jetzt schon. Versprich mir, dass es das letzte Mal war, dass du weinst. Ich werde euch sooft besuchen, wie es geht. Ehrenwort!“
Die Gholams unterbrechen den Abschied
Wir merkten, dass die anderen uns aufmerksam zuschauten und beschlossen, die Aufführung zu beenden.
Sie befreite mich aus ihrer innigen Umarmung und steuerte auf die Gholams und meinen Vater zu, die neben dem grünen VW-Van der Hippie-Familie standen.
„Hallo zusammen! Schön euch mal wieder zusehen.“ sagte sie in ihrem gewohnten freundlichem Ton.
Sie musterte Munirah und wollte ihr genauso wie mir ein gutes Gefühl auf den Weg mitgeben.
„Hallo Munirah! Wie geht’s dir? Freust du dich schon? Also ich kann dir sagen, Emily ist total aus dem Häuschen. Ich bin sicher, ihr werdet zusammen viel Spaß haben.“ sagte sie und tätschelte ihren Oberarm. Munirah war wie eine zweite Tochter für sie, genauso wie ich für Elaine. Im Laufe der Jahre hatten wir so viel Zeit miteinander verbracht, dass wir einander in und auswendig kannten.
„Hallo Mrs. Moon. Ja, ich freue mich auch übermäßig. Aber das haben sie wahrscheinlich schon mehrfach mitbekommen. Ich hatte allerdings keine Schwierigkeiten mit meiner Garderobe. Sie passt ohne Probleme in meine Koffer. Ich musste auch nichts zurücklassen.“ Sie warf mir einen sarkastischen Blick zu. Immer musste sie mich damit aufziehen.
Meine Mutter lachte.
„Oh ja, das war eine Tragödie. Pausenlos haben wir uns darüber gezankt, welche Kleidungsstücke sie hier behalten sollte. Aber am Ende habe ich mich doch durchgesetzt. Die Hälfte lässt sie hier und nach und nach folgen sie ihr dann nach.“
Die Stimmung heiterte sich auf. Mein Vater verdrehte die Augen bei dem Thema. Rashid und Elaine amüsierten sich.
„Ich hab diese Probleme nicht. Munirah ist da nicht so wählerisch.“ sagte Elaine lachend und wedelte mit der Hand in der Luft als Zeichen der Verneinung.
Währenddessen setzte Rashid Rahim in seinen Kindersitz und machte es sich auf dem Fahrersitz bequem.
„So ich glaube wir müssen langsam. Die Maschine wartet nicht und ich bin sicher die Damen wollen sie nicht verpassen.“ sagte er und zwinkerte Munirah und mir zu. Munirah und ich wechselten die Blicke und huschten hastig auf einen von den acht Sitzen. Unsere Mütter folgten uns und mein Vater lud mit einem Ruck die Koffer in den Kofferraum.
„Wusste ich’s doch, dass die Taktik funktioniert.“ sagte Rashid zu sich selbst überzeugt.
Der Weg zum dorfnahen Flughafen
Er lachte lauthals und warf den Motor an. Er mochte diese langen Abschiedsszenen nicht, deshalb versuchte er solche ins Lächerliche zu ziehen, was ihm auch immer wieder gelang.
Mein Vater saß nun auf dem Beifahrersitz und Rashid fuhr rückwärts hinaus auf die Straße in Richtung Flughafen.
Es war ein kleiner Flughafen und nur zehn Minuten entfernt. Eigentlich war es kein richtiger Flughafen. Die Maschinen machten nur einen Zwischenstopp, falls jemand einen Flug buchte. Das kam vielleicht fünf Mal im Monat vor. Andere Möglichkeiten hatten wir hier nicht. Der nächstgelegene richtige Flughafen war vier Stunden Fahrt entfernt.
War auch nichts anderes zu erwarten, wenn man in Betracht zog, dass Wibaux umgeben von der Wildnis und ziemlich klein war. In Wibaux war alles klein und unauffällig. Sogar die Menschen verhielten sich so. Einer der weiteren Gründe, weshalb ich in eine größere Stadt wollte.
Die Fahrt zum Flughafen verlief äußerst amüsant, denn Rashid macht immer wieder Witze. Wahrscheinlich würde er das machen, bis wir endlich im Flieger saßen. Dann erst könnten die Mütter ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Und wir ebenfalls. Wir allerdings hatten etwas zum Trauern und viel, um sich darüber zu freuen. Wie oft hatten wir uns diesen Tag mit Munirah ausgemalt? Und nun war er gekommen. Der große Tag!
Der kleine Rahim weiß von nichts
Je mehr wir uns dem Flughafen näherten, umso mehr steigerten sich die Spannung und auch die Anspannung. Bei jedem weiteren Witz fiel es unseren Familienmitgliedern immer schwerer und schwerer, mitzulachen. Doch sie taten es, um die Heiterkeit zu bewahren, so gut es ging. Nur der kleine Rahim hüpfte ihn seinem Kindersitz zu der Musik, die leise aus dem Radio stöhnte, auf und ab. Obwohl er auch so intelligent war, war er trotzdem noch ein Kind. Beinahe ein Baby! Und er verstand nicht, dass seine Schwester jetzt für mehrere Jahre in eine fremde Stadt ging und vielleicht auch dort für den Rest ihres Lebens bleiben würde oder auch woanders weit weg.
Das war auch gut so, dass er nichts verstand! Eine Person weniger, die in wenigen Minuten traurig sein würde.
Ich schaute meine Mutter sorgfältig an und stellte fest, dass sie nur mimte zu lächeln. In Wahrheit war ihr ganz anders zumute.