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Erst rollt die Stadtbahn, dann rollt die Debatte – und manchmal rollt jahrelang gar nichts, außer Augen. Aplerbeck kennt das. Fünf Haltestellen an der B1, fünf Mal Stufen, Umwege und Improvisation. Während anderswo die neuen Wagen surren und die Türen bündig am Bahnsteig anliegen, turnen hier Kinderwagen, Rollatoren und Reisekoffer auf 80er-Jahre-Niveau. Barrierefreiheit heißt für viele Menschen schlicht: mitfahren oder draußen bleiben.

Die gute Nachricht: Der Umbau kommt. Die weniger gute: Er kommt nicht geräuschlos, nicht konfliktfrei und schon gar nicht im Express-Tempo. Man kann das mies finden – oder man kann genauer hinschauen, warum es so ist. Hinter den Plakaten stehen echte Zielkonflikte: Bäume vs. Bahnsteighöhen, Denkmalliebe vs. Alltagstauglichkeit, Wunschzettel vs. Förderrecht.

Fünf Haltestellen, eine Stadt – und sehr viele Bäume

Zwischen Kohlgartenstraße und Stadtkrone Ost liegt ein Korridor, den Dortmund gerne wie eine Visitenkarte behandelt: die B1-Allee. Schön anzusehen, aber gnadenlos, wenn man mit Gehhilfe zur Bahn will. Wer hier von „Barrierefreiheit“ spricht, meint am Ende „Menschenwürde am Bahnsteig“: stufenlos, sicher, ohne Turnübungen. Und ja, dafür brauchen Bahnsteige die richtige Höhe, Aufzüge, klare Wege – nicht nur eine frische Farbe.

Klar, da sind die Bäume. Sie sind nicht „Beiwerk“, sie sind Identität. Wer sie schützen will, ist nicht automatisch gegen Teilhabe. Nur: Eine Stadt ist kein Museum. Wenn moderne Fahrzeuge (die „Vamos“) keine Zwischenstufen kennen, kann man die Physik nicht wegverhandeln. Bahnsteige müssen wachsen, sonst bleiben Menschen draußen. Eine Stadt, die ernsthaft Inklusion will, darf Grün erhalten – aber nicht indem sie Menschen weiterhin am Einstieg scheitern lässt. Nachpflanzen, klüger gestalten, Hitzeinseln vermeiden: Ja. Barrieren konservieren: Nein.

Demokratie in Zeitlupe, aber immerhin vorwärts

Warum hat das vier Jahre gedauert? Weil Dortmund nicht nur gebaut, sondern zuerst gestritten, abgewogen, modelliert und moderiert hat. Bürgerdialoge, Varianten, Gutachten, Wettbewerbe – und dann wieder zurück zur Frage: minimalinvasiv umbauen oder die B1 als städtebauliche Gesamtidee neu denken? Politik ist hier kein „Mach mal!“-Knopf. Fördermittel wollen Akten, Planrecht will Verfahren, und jede zusätzliche Vision kostet Jahre.

Das ist anstrengend – und trotzdem wertvoll. Der Weg hat verhindert, dass man sich mit einer Alibi-Rampe freikauft oder mit einem Schnellschuss vor Gericht scheitert. Wer das nur als „Blockade“ rahmt, macht es sich zu einfach. Gleichzeitig gilt: Sorgfalt ist kein Dauerzustand. Wenn Dialog zum Dauerloop wird, kippt Beteiligung in Erschöpfung. Dortmund hat am Ende entschieden – nicht perfekt, aber eindeutig: umbauen, barrierefrei, Schritt für Schritt.

Mehr Würde pro Zentimeter – und was Aplerbeck wirklich davon hat

Das Ergebnis lohnt die Mühe. Höhere Bahnsteige bedeuten nicht nur, dass Rollstuhl und Kinderwagen endlich ohne Trägertross in die Bahn kommen. Sie bedeuten auch: kürzere Haltezeiten, weniger Gedrängel, weniger Sturzrisiko, bessere Orientierung. Mit Überdachungen, klaren Wegen und Aufzügen wird aus „da irgendwo an der B1“ wieder „eine Haltestelle“ – ein Ort, der hält, was er verspricht.

Natürlich wird es Lärm, Sperrungen und Umleitungen geben. Natürlich wird jemand den Lieblingsbaum vermissen. Beides ist real. Wer’s kleinredet, verspielt Vertrauen. Wer’s größer macht als Menschenwürde, verspielt Prioritäten. Die Aufgabe der Stadt ist jetzt banal und brutal wichtig: transparente Bauphasen, klare Kommunikation, Ersatzpflanzungen, Hitzeschutz ernst nehmen, und bitte keine „Baustelle ruht – Akte pendelt“-Sommerlöcher.

Und ja: Die neuen Wagen gehören auf diese Strecke. Nicht, weil „neue Technik“ automatisch Fortschritt ist, sondern weil moderne Fahrzeuge ohne Stufen nur dann gerecht sind, wenn die Infrastruktur mithält. Wer „Aplerbeck hängt hinterher“ sagt, sagt damit auch: Menschen hängen hinterher. Das ist die eigentliche Zumutung.

Andere Perspektiven? Sie haben ihren Platz. Wer für Baumerhalt kämpft, verteidigt Lebensqualität. Wer Flächen neu ordnen will, denkt an Stadtbild und Klima. Wer auf Kosten schaut, ist nicht herzlos, sondern rechenschaftspflichtig. Aber: Priorität heißt Reihenfolge, nicht Ausschluss. Erst die Einstiegskante auf Augenhöhe mit dem Fahrzeug – dann die Kür der Gestaltungsideen.

Dortmund hat sich entschieden, und das ist gut so. Jetzt gilt: nicht wieder im Verfahren versickern, nicht im Pressetext stehen bleiben, sondern bauen – sichtbar, zügig, ehrlich. Wenn die ersten Zentimeter Bahnsteighöhe wachsen, wächst auch etwas anderes mit: das Gefühl, in dieser Stadt gemeint zu sein. Genau das meine ich mit Gleichberechtigung am Bahnsteig. Sie ist kein „Projekt“, sie ist ein Versprechen – und Versprechen sollte man so planen, dass sie auch halten.

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern.Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein.Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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