Nach stundenlangem Hocken vor dem Anmeldungsbüro und der Warterei, werde ich auf eine internistische Station geschickt und bekomme endlich ein Krankenzimmer, das ich mit zwei weiteren Patientinnen teilen sollte.
Ich bin das erste Mal in meinem Leben (freiwillig) im Krankenhaus, als Patientin. Denn zuvor habe ich in einer Klinik gearbeitet und das war was völlig anderes. Jetzt sollte ich dort liegen und mich bedienen lassen, aber dafür viel Leid ertragen und meine Bettnachbarinnen stören. Das Antibiotikum habe nicht angeschlagen, daher sei eine intravenöse Behandlung, und das ist nur stationär möglich, angebracht, findet der Pneumologe Paul.
Als Kassenpatientin kenne ich meine Grenzen und Möglichkeiten. Das Erste, wonach ich frage, sind Ohropacks und ob ich duschen darf bevor die intravenöse Antibiotikatherapie beginnt. Meine Krankheit fällt sofort auf, irgendwas mit Keuchhusten oder Tuberkulose. Ich fühle sofort, dass ich eine unerwünschte Zimmergenossin bin. Es war fast so, als hätte ich die Pest und die eine Patientin regte sich ständig über mich und die Situation auf, ging immer wieder raus etc. Vielleicht verlangt sie nach einem anderen Zimmer, denke ich. Ich darf nicht im Zug sitzen, nicht bei offenem Fenster schlafen, sagt mir jedenfalls einer der vier Ärzte, der mich in den letzten Wochen untersucht hat. Der vierte Arzt war allerdings Paul, der mir unverzüglich nach dem Abhorchen per Stethoskop eine Lungenentzündung diagnostizierte. Bestätigung holt er sich von der Radiologie. Es steht nun fest: ich hatte die letzten 2 Wochen ohne Wissen unter einer Lungenentzündung gelitten, welche durch die ersten drei ÄrztInnen nicht entdeckt wurde. Bisher hatten nämlich keine Medikamente, keine Hausmittel, kein Zwiebel mit Honig, kein Ingwer, keine Zitrone, kein Apfelessig und vieles mehr, was ich nicht unausprobiert ließ, geholfen. Ich bin im Endeffekt total froh darüber, dass es nur eine Lungenentzündung ist. Das Fatale ist nur, dass sie nicht so leicht zu diagnostizieren ist.
Ich habe nur noch im Kopf, ich muss jetzt aufpassen und bloß nicht bei offenem Fenster schlafen. Gegenüber Gestank bin ich sehr sensibel und selbst mir passte es daher nicht, bei geschlossenem Fenster in einem Zimmer zu liegen, das ich mit zwei weiteren Personen teile. Eine 90-jährige und eine 66-jährige Patientin. Die beiden verstehen sich blendend, ich kam später dazu und musste mich ihnen anpassen bzw. integrieren.
Der Husten wurde weniger, nur ab und zu kamen große Hustenattacken, da lag ich dann flach auf dem Flur, wo mich das Personal vom Boden abkratzen musste. Auch bekam ich Ärger, ich solle doch nicht auf den Boden knien, sonst würde ich mir eine Blasenentzündung holen. Dabei gab es Regeln, die der Husten mir aufgestellt hat. Husten in bestimmter Körperhaltung, damit das Zwerchfell nicht so weh tut und die Erstickungsgefahr durch den Schleim reduziert wird. Bei offenem Licht schlafen. Auf keinen Fall nach rechts oder nach links drehen, sondern immer schön auf dem Rücken schlafen im besten Fall senkrecht sitzend. Das Bett musste immer hochgestellt sein. Sobald ich mich hinlege, fängt der Husten an. Der Husten ist den ganzen Tag da, aber seine Lieblingszeit ist aus meiner Sicht die Dunkelheit. Mein Wecker war der Husten und mittlerweile bekam ich mehr Angst vor dem Husten als alleine im dunklen Wald zu laufen, wenn ich das mal so beschreiben darf. Nachts fragt mich dann meine Bettnachbarin, ob ich bei offenem Licht schlafen möchte. Es ist eine indirekte Aufforderung es auszumachen bzw. eine indirekte Frage, ob ich es denn ausmachen kann oder am besten gefälligst ausmache. Ich entschuldige mich und schalte es aus. Bloß keinen Ärger. Immer schön Rücksicht auf andere nehmen, denn sie sind schließlich auch krank und müssen es wenigstens nachts ruhig und dunkel haben.
Die beiden unterhalten sich, besonders die 90-jährige Charlotte, über Hitler. Beide haben schon mit 19 geheiratet, damals musste man die Einwilligung der Eltern einholen, jedenfalls bis zum 21. Lebensjahr. Es wird viel geschimpft über Hitler und er sei doch ein geisteskranker Mensch gewesen, der nicht mal selber deutsch war, sondern Österreicher. Es tut natürlich gut, wenn ich Bettnachbarinnen habe, die deutsch sind und was gegen Hitler haben. Ich mische mich nicht viel in das Gespräch der beiden ein, höre nur aufmerksam zu und vegetier so vor mir herum. Das hab ich schon lange nicht gemacht: einfach nur so rumsitzen. Die 66-jährige war als Kind in einem katholischen Heim. Dort habe sie so viel beten müssen, dass sie für ihr ganzes Leben genug gebetet habe. Nun liegt sie in einem katholischen Krankenhaus und will aber nix mit dem Katholizismus zu tun haben. Sie glaube schon an etwas, an die Natur usw. nach meiner Definition sind sie eine Pantheistin, sage ich ihr daraufhin. Charlotte, die 90-jährige, bezeichnet sich als eine Freidenkerin aber sie glaubt viel an Schutzengel. Ähnlich wie Cat Stevens, war sie fast im Meer, irgendwo in Spanien, ertrunken, doch jemand zog sie an Land. Den sah sie nie wieder, der war aber ihr Schutzengel. Er hatte einen braunen Badeanzug an. Eigentlich mag Charlotte die Farbe braun nicht, aber es sei ein sehr schönes Braun gewesen.
Nie läuft bei uns Dreien der Fernseher, es gibt immer was zu erzählen. Ich bin das Küken und meine Erlebnisse oder Erfahrungen lösen sich neben den beiden Damen, die weitaus mehr zu bieten haben an Lebenserfahrung und Anekdoten, in Luft auf. Aktives Zuhören ist dort mein Hobby, ich sauge alles auf, was ich höre und versuche daraus eine Lehre für mich zu ziehen. Dabei fällt mir auf, wie groß doch das Gefälle zwischen uns ist, sowohl altersmäßig als auch kulturell.
Rücksichtnahme macht sich bezahlt. Meine Bettnachbarinnen zeigen immer mehr Empathie und nehmen Rücksicht auf mich. Das Frühstück wird an mein Bett gebracht, jeder Wunsch von den Augen abgelesen. Es ist Mitleid im Raum. Abends bin ich ständig unterwegs, kriege viel Besuch, viele Anrufe und whatsappe fleißig. Doch am Morgen bin ich k.o. zumal eine Krankenschwester mit dem Wägelchen schon um 6.45 unser Zimmer betritt. Es gibt eine große Fluktuation; wir sehen immer wieder neue Gesichter, die sich uns mit dem verschiedensten medizinischen Posten vorstellen. Uns ist es egal, wir finden es lustig und jede von ihnen bekommt einen Spitznamen, denn die Originalnamen merken wir uns nicht.
Nachdem meine 90-jährige Zimmergenossin ihr Frühstück aufgegessen hat, sagt sie folgende Worte: „So Charlottchen, haste fein gemacht. „Hast fein gemacht hast fein gemacht, drum wirst du auch nicht ausgelacht. „
Eine Frau, die ich bewundert habe. Ihre Lebensfreude, ihre Lebensgeschichte und ihre ganze Art. Sie bringt uns oft zum Lachen. Vor allem, wie sie ihre Kopfschmerzen beschreibt, weswegen sie ja im Krankenhaus gelandet ist: „also wissen Sie Herr Doktor, ich habe einen Apfel geschält und dann traf mich der Blitz!“ Sie fragt ihren Besuch: „wisst ihr, was Oma auf chinesisch heißt?“ „Kann kaum kauen“. Wir lachen uns schief. Diese Frau hat Humor. Mit ihren dritten Zähnen isst sie ihr Frühstück besser auf als ich. Meine belegten Brote bleiben bis Mitternacht im Zimmer.
Sie hat fünf Tage ununterbrochen Kopfschmerzen und beklagt sich nicht so laut darüber. Sie beschwert sich auch nicht viel, geht sehr geizig mit dem Notrufknopf um. Eine andere Patientin nebenan schreit vor Schmerzen und das Tag und Nacht. Als ob man sie foltern würde. Ich drücke den gelben Knopf, weil ich mein Inhaliergerät nicht betätigen kann, denn es wurde mir nur einmal erklärt. Ich kriege Ärger: der Notrufknopf sei nur für Notfälle. Charlotte regt sich auf:“ ich dachte, das hier ist ein Krankenhaus, das als schmerzfreie Klinik ausgezeichnet wurde, von wegen!“ Auch sagt sie meistens: „ich will das nicht so laut sagen, aber ich habe gerade keinerlei Schmerzen“. Sie hat offensichtlich Angst, dass die Schmerzen dann wiederkommen, ungefähr die Angst vor „bösem Blick“ oder“ Magie“ ähnlich wie „Nazar“ auf Türkisch. Ich scanne die ganzen Zertifikate im Gang durch. Allerdings hängt das Zertifikat für die schmerzfreie Auszeichnung wirklich noch im Flur, jedoch steht dort kleingedruckt, wie lange es gültig ist, nämlich bis Januar 2011. Es ist abgelaufen und hängt noch dort. Wir haben derzeit August 2012.
Charlotte und ich sind traurig, weil unsere Bettnachbarin, die 66-jährige, uns verlässt. Sie wird halbgeheilt entlassen. Ich ahne, dass ich genauso entlassen werde und bin trotzdem froh, dass mein Husten viel viel weniger geworden ist. Irgendwann kommt ein PJ-ler rein und möchte Blut von mir abnehmen. Charlotte kennt ihn schon. Das ist der, der bei ihr so oft rumstochert, bis er ihre Vene findet. „Irgendwo müssen die ja anfangen zu lernen, sagt Charlotte und es macht ihr nichts aus. Sie hat einen Spitznamen für ihn: er heißt Atze, weil er auch so einen lockigen Schopf hat. Ich finde ihn auch ausgesprochen nett, aber so kurz vor Entlassung, wo es mir doch so gut geht, Blut abnehmen lassen? Von einem Anfänger? Nein danke! Nachts geben mir Charlotte und B. immer einen Konzert. Es ist ein Zeichen, dass sie tief und fest schlafen und ich kann mich nur freuen für sie, weniger beklagen über den Lärm. Am nächsten Tag erzähle ich ihnen, wer in welchem Takt geschnarcht hat.
Für einen Augenblick fühl ich mich wie in dem Roman „hinter verschlossenen Türen“ von Sartre. Wir sind zu dritt in einem Zimmer, nur eben aus völlig anderen Generationen und Kulturen. Und wir spiegeln uns täglich.
Einen Monat nach meiner (halbgeheilten) Entlassung besuche ich endlich Charlotte (die 90-jährige), die inzwischen in einem anderen Krankenhaus gelandet ist. Ich hatte sie sehr vermisst. Wir hatten zusammen Lieder von Margot Werner, Hildegard Knef und die Flippers gesungen (Bei Harry Belafonte musste ich passen). Sie erinnert sich nicht mehr an mich und schlimmer war, dass es ihr wesentlich schlechter geht als vorher. Ich habe mich inzwischen vom Husten, aber auch von Charlottchen verabschiedet.
2012 war das Jahr der Lungenentzündung, glaube ich. Denn sowohl Freunde und Bekannte von mir unterlagen dieser Krankheit. Dass ein Pariboy fast in jeden Haushalt gehört, erfuhr ich somit auch. Das ist der Mercedes aller Inhaliergeräte, sagte jedenfalls eine von der Apotheke. Für die Atemnot ist es nicht schlecht, ansonsten der letzte Schrott mit einem Zubehör aus Plastik. Zuletzt las ich, dass Georg Michael Angstzustände wegen seiner Lungenentzündung hat. Dies kann ich nur zu gut nachvollziehen. Es war ein Alptraum. Vor allem nachts nicht zu wissen, ob man es bis zum nächsten Morgen durchhält.
Neulich beteiligte ich mich (als Nicht-Ärztin) an einem Ärztekongress in Rostock. Dort fiel ungefähr der Spruch: …“Es gibt Patienten, die zahlen 10 Euro Praxisgebühr und denken: „Jetzt gehört der Arzt /die Ärztin für 3 Monate mir.“ Ich fühlte mich irgendwie ertappt. Aber „ich freute mich, dass ich lebte“, sagte doch auch Jürgen Leinemann in seinem Artikel über seine Krankheit. [1]
Er war 2007, kurz bevor ihm Krebs diagnostiziert wurde, nur für kurze Zeit unser Gastdozent. Das Seminar war voll und einige mussten gehen. Es gingen auch welche freiwillig. Er begann das Seminar mit der Empfehlung niemals aufzugeben und kritisierte die, die gegangen sind ohne zu kämpfen um zu bleiben. „Sich bloß nicht abwimmeln lassen „lautete die Devise. Das gilt auch für Terminvereinbarungen mit Arztpraxen. Vor allem sind Lungenärzte, ähnlich wie Orthopäden und Neurologen, sehr ausgebucht. Hier gilt auch der Dank an die Person, die mich überredet hat, alle Lungenärzte anzurufen und einen schnellen Termin zu ergattern. Sonst blieb ich noch zu Hause mit der Diagnose „Sommergrippe“ und hätte weiter gelitten. Aktuell gibt es die bundesweiten Ärzteproteste. Ich wünsche allen behandlungsbedürftigen Patienten viel Erfolg bei diesem Gesundheitssystem.
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