Podcast des Blogbeitrags:
Es gibt Momente, in denen man beim Scrollen durch die Nachrichten denkt: „Auf welchem Planeten lebt ihr eigentlich?“ Der Mord am US‑Aktivisten Charlie Kirk ist einer dieser Momente. Ein Scharfschütze tötet einen 31‑jährigen Polit‑Influencer auf einem Universitätscampus in Utah , und ausgerechnet die Frage, ob man das Opfer noch einen Provokateur nennen darf, treibt Teile des Netzes zur Weißglut. In der ZDF‑Sendung „heute journal“ verurteilte Dunja Hayali den Angriff, nannte aber auch Kirks „oftmals abscheuliche, rassistische, sexistische und menschenfeindliche“ Aussagen . Prompt gab’s den Shitstorm: Pietätlos! Linksbias! Und irgendwo dazwischen weint der gesunde Menschenverstand.
Dabei ist die Empörung erstaunlich selektiv. Die gleichen Kreise, die sich über Hayalis Formulierung echauffieren, haben jahrelang auf politisch Andersdenkende eingeprügelt, von „Soja‑Milch‑Schlürfern“ bis hin zu „Vaterlandsverrätern“. Nun aber soll ein öffentlich‑rechtlicher Moderator auf Zehenspitzen über Kirks Vergangenheit tänzeln? Man fragt sich, ob das „respektvoll“ gemeinte Schweigen über seine Taten nicht eher eine Verschleierung ist.
Ein Heiliger aus dem Nichts?
Kirk war kein Messdiener. Reuters erinnert daran, dass der Turning‑Point‑USA‑Gründer immer wieder anti‑immigrantische und anti‑LGBTQ‑Positionen vertreten hat . Er nannte das Civil‑Rights‑Gesetz von 1964 „einen riesigen Fehler“ , verbreitete die „Great‑Replacement“-Verschwörungstheorie und bezeichnete Islam als „nicht kompatibel mit der westlichen Zivilisation“ . Als ein Besucher bei einer Veranstaltung fragte, wie viele trans Personen in den vergangenen zehn Jahren Amokläufe begangen hätten, antwortete Kirk: „Zu viele“ – obwohl Faktenchecks belegen, dass dies falsch ist. Später likte er Tweets, die Ärzte, die geschlechtsangleichende Operationen durchführen, mit Nazis verglichen haben . Man kann ihm alles Mögliche nachsagen, aber ein Freund der Diversität war er nicht.
Trotzdem bekam der Mann eine Gefolgschaft. 250 000 Mitglieder und Kapitel an 3 500 Schulen und Universitäten zählen zu seinem Netzwerk . Seine Anhänger sahen in ihm einen Kämpfer für die freie Rede; seine Kritiker erkannten einen Lautsprecher für die radikale Rechte. Wenn nun also jemand sagt, dass Kirk rassistische und sexistische Dinge gesagt hat, ist das nicht „linke Hetze“, sondern schlichte Tatsachenwiedergabe. Dass er nun Opfer eines Attentats wurde, macht diese Tatsachen nicht unwahr.
Zugegeben: Es gibt auch Argumente für eine zurückhaltendere Sprache. Angehörige trauern, und niemand möchte, dass die letzten Worte über einen geliebten Menschen Schimpftiraden sind. Doch wer die Toten verklärt, nimmt den Lebenden den Raum für eine ehrliche Debatte. Es gibt keinen Ehrenkodex, der verlangt, alle Kritik am Lebenswerk eines Menschen zu begraben, nur weil dieser brutal ermordet wurde. Wer das fordert, will Diskussionen abwürgen.
Worum es eigentlich gehen sollte
Die eigentliche Tragödie liegt darin, dass politische Gewalt normalisiert wird. Der Mord an Kirk reiht sich ein in eine Spirale von Anschlägen, Morddrohungen und Angriffen, egal ob sie sich gegen liberale Politiker oder konservative Aktivisten richten. Die NAACP verurteilte den Anschlag als „schreckliche Eskalation politischer Gewalt“ , und auch LGBTQ‑Organisationen, die Kirk sonst scharf kritisierten, stellten klar, dass Gewalt niemals eine Antwort ist . Hier wären sich Hayali‑Kritiker und Kirk‑Gegner sogar einig.
Die Debatte zeigt auch die Schieflage unserer Medienkultur. Während ein ZDF‑Beitrag ein paar Sätze zu viel zur Person Kirk sagt und dafür einen Shitstorm erntet, verbreiten rechte Influencer die Botschaft, dass jeder, der Kirks Tod feiert, ruiniert werden soll . Dieses Sanktionsdenken passt genau zu Kirks Markenzeichen: Mit „Professor Watchlists“ wurden Dozenten öffentlich an den Pranger gestellt . Nun wird dieselbe Praxis von seinen Unterstützern gegen Journalisten angewendet. Wer zu laut fragt, könnte plötzlich auf einer Liste stehen – diesmal nicht von Universitätsstudenten, sondern von wütenden Twitter‑Mobbern.
Wie wäre es, wenn wir den Blick erweitern? Die Empörung über Hayali ist auch ein Ventil für die Frustration über einen öffentlich‑rechtlichen Rundfunk, den manche rechts der Mitte als parteiisch wahrnehmen. Der Verdacht, dass Moderatorinnen „linksgrün“ seien, ist an sich nicht neu. Doch wenn man alle Informationen, die nicht ins eigene Weltbild passen, als „Lüge“ brandmarkt, dann endet jede Diskussion im Schreiduell. In dieser Hinsicht hat Kirk, der den „Stop‑the‑Steal“-Mythos kultivierte , den Boden für die jetzige Atmosphäre bereitet.
Ein Ende voller Ambivalenz
Und so bleibt man nach diesem Medienzirkus zwischen Mitleid und Augenrollen zurück. Mitleid, weil ein Vater von zwei kleinen Kindern erschossen wurde; Augenrollen, weil er zu Lebzeiten so viele Grenzen überschritt, dass sich nun niemand sicher ist, wie ehrlich man trauern darf. Vielleicht ist der einzige Ausweg aus dieser Misere, weniger von Heiligen und Dämonen zu reden und mehr darüber, wie wir mit Hass umgehen. Das heißt auch, dass man Dunja Hayali nicht für zwei treffende Adjektive kreuzigt und gleichzeitig darauf achtet, Kritik sachlich zu formulieren.
Die Integrationsfrage steckt hier tiefer, als es auf den ersten Blick scheint: Wenn wir über Integration sprechen, geht es auch um die Integration von Meinungen, um das aushalten von Kontroversen und darum, sich nicht gleich für den jeweils anderen die schlimmsten Schubladen bereitzuhalten. Dem Mord an Kirk darf eine klare Verurteilung folgen. Seine politische Agenda darf und muss diskutiert werden. Und wer sich über Hayalis Worte aufregt, sollte sich fragen, ob er dasselbe Maß an Menschlichkeit denen entgegenbringt, die täglich von Kirks Rhetorik getroffen wurden.
Ironischerweise hat die Debatte darum, wie „respektvoll“ man über Tote sprechen darf, uns gezeigt, dass es immer noch tabu ist, Rassismus, Sexismus und Menschenfeindlichkeit klar zu benennen. Vielleicht ist das der eigentliche Skandal. Feierlicher Schlussakkord? Eher ein Weckruf dafür, nicht bei der nächsten Tragödie wieder in alte Reflexe zu verfallen.
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