Queere Menschen – wir lieben sie jung, dynamisch und vor allem TikTok-ready. Eine Pride-Parade ohne Regenbogen-Bodypaint oder Drag-Queens in Neonfarben? Kaum vorstellbar. Unsere Wahrnehmung von Queerness ist fest mit Jugendlichkeit verbunden. Doch was passiert, wenn queere Menschen Falten bekommen, ihre Haare ergrauen und sich das Leben jenseits der Instagram-Filter abspielt? Genau, sie verschwinden – aus unseren Köpfen, aus der Öffentlichkeit und, wie es scheint, aus der Geschichte.

Queer ist doch kein Trend, oder?

Egal, ob Netflix-Serien, Umfragen zur sexuellen Identität oder Social-Media-Diskussionen: Queersein wirkt wie ein Phänomen der Gen Z. Als wären queere Menschen ein Trend – so etwas wie Einhorn-Lattes oder Y2K-Mode. Eine hippe Lifestyle-Option, für die man sich einfach mal entscheidet, bevor man zurück in die heteronormative Komfortzone wechselt. Aber Überraschung: Queere Menschen gab es schon immer. Ja, sogar vor der Erfindung von Bluetooth und glutenfreiem Brot. Doch anstatt diese historischen Lebensrealitäten sichtbar zu machen, bleibt ein unangenehmes Schweigen.

Simon Sales Prado hat sich auf die Suche nach queeren Menschen gemacht, die vor 1945 geboren wurden. Er wollte ihre Geschichten hören, sie sichtbar machen. Aber was hat er gefunden? Eine Mischung aus Achselzucken und Schweigen. Es scheint, als wäre die queere Community kollektiv an einer Geschichts-Amnesie erkrankt.

Warum uns queere Geschichte langweilt

Die Wahrheit ist: Wir sind selektiv, wenn es um queere Geschichten geht. Die schillernden Erfolgsgeschichten und schmerzhaften Diskriminierungserfahrungen jüngerer Generationen – die interessieren uns. Denn sie sind nahbar, relatable, und irgendwie sexy. Aber die queeren Senioren? Sie haben weder die Medienpräsenz noch die Coolness-Faktor, die wir so gern mit queerer Identität verbinden. Und seien wir ehrlich: Es ist auch viel schwieriger, über die Lebensrealität eines schwulen Mannes zu sprechen, der in den 1950ern seine Liebe im Verborgenen leben musste, als über einen Instagram-Post von Elliot Page zu diskutieren.

Vielleicht liegt es daran, dass Geschichte unbequem ist. Ältere queere Menschen erinnern uns daran, dass das, was heute als Selbstverständlichkeit erscheint, ein harter Kampf war. Sie zeigen uns, dass es eine Zeit gab – keine so ferne Vergangenheit übrigens – in der Queerness nicht gefeiert, sondern kriminalisiert wurde. Das passt nicht ins Narrativ der farbenfrohen Pride-Kultur, die wir uns so gern basteln.

Unsere Komfortzone: Schweigen

Es ist faszinierend (um nicht zu sagen peinlich), dass wir im Jahr 2024 fast alles archivieren – von jedem drittklassigen Influencer-Drama bis zur neuesten Avocado-Toast-Variante – aber die Geschichten älterer queerer Menschen bleiben unsichtbar. Warum? Weil wir es zulassen. Es gibt kaum Forschungsprojekte, keine großen Archivierungsprojekte und wenig öffentliche Diskussion darüber.

Und was machen queere Senioren? Die meisten schweigen. Warum? Vielleicht aus Gewohnheit. Viele haben Jahrzehnte in einer Welt gelebt, in der Schweigen die einzige Möglichkeit war, zu überleben. Ihre Erfahrungen wurden nie gefragt, also erzählen sie sie auch nicht.

Was wir verpassen

Indem wir ältere queere Menschen ignorieren, berauben wir uns selbst einer unglaublichen Ressource. Diese Menschen haben die dunkelsten Zeiten der Diskriminierung überlebt. Sie haben Widerstand geleistet, als es keine Likes oder Retweets dafür gab. Sie waren mutig, als Mut keine soziale Währung war. Vielleicht liegt genau hier das Problem: Ihre Geschichten passen nicht in unsere polierte Version von Queerness.

Perspektive ändern

Stellen wir uns vor, wir würden die gleichen Ressourcen, die wir in queere Influencer stecken, auf die Dokumentation und Würdigung queerer Geschichte verwenden. Stellen wir uns vor, es gäbe Plattformen, die genauso viel Wert auf die Geschichten von LGBTQ+-Senioren legen wie auf die neueste Staffel von Heartstopper. Verrückt, oder?

Am Ende bleibt die Frage: Warum reden wir über queere Menschen nur, wenn sie jung, schön und trendy sind? Warum blenden wir diejenigen aus, die Queerness gelebt haben, als es gefährlich war? Vielleicht liegt die Antwort darin, dass wir nur die Geschichten hören wollen, die uns angenehm sind. Alles andere? Ach, das passt nicht in den Feed.

Aber keine Sorge: Auch wir werden alt. Vielleicht lernen wir dann, mit Falten und Geschichte gleichermaßen umzugehen.

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Als Integrationsblogger gründete ich 2010 diesen Blog, inspiriert durch die Sarrazin-Debatte. Geboren 1977 in Dortmund als Kind türkischer Einwanderer, durchlebte ich vielfältige Rollen: vom neugierigen Sohn zum engagierten Schüler, Breakdancer, Kickboxer, Kaufmann bis hin zu Bildungsleiter und Familienvater von drei Töchtern. Dieser Blog ist mein persönliches Projekt, um Gedanken und Erlebnisse zu teilen, mit dem Ziel, gesellschaftliche Diversität widerzuspiegeln. Als "Integrationsblogger" biete ich Einblicke in Debatten aus meiner Perspektive. Jeder Beitrag lädt zum Dialog und gemeinsamen Wachsen ein. Ich ermutige euch, Teil dieser Austausch- und Inspirationsquelle zu werden. Eure Anregungen, Lob und Kritik bereichern den Blog. Viel Freude beim Lesen und Entdecken!

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