Eine Szene aus Syrien: Annalena Baerbock steht Ahmed al-Scharaa gegenüber, die Hände ausgestreckt, der Moment geladen mit internationalem Protokoll. Doch statt die ausgestreckte Hand zu ergreifen, führt al-Scharaa seine Hand an sein Herz – eine Geste, die in vielen Kulturen als Symbol für tiefen Respekt und Ehrerbietung gilt. Ein Akt der Respektlosigkeit? Keineswegs. Doch die Schlagzeilen in den westlichen Medien ließen anderes vermuten: patriarchale Abwertung einer Frau, hieß es. Ein Skandal, der keiner war – aber medial inszeniert wurde.
Während also in den Redaktionsstuben Europas die Empörung kochte, machte sich kaum jemand die Mühe, den Akt der Verweigerung im Kontext zu betrachten. Warum auch? Skandale verkaufen sich besser als Verständnis. Und so wurde ein kultureller Unterschied zur Schlagzeile und ein syrischer Politiker zum Symbol vermeintlicher Respektlosigkeit gegenüber Frauen.
In der Welt des westlichen Überlegenheitsdenkens steht Toleranz groß auf den Bannern, solange sie sich an die eigenen Vorstellungen hält. Was dieses Missverständnis wirklich zeigt, ist weniger kulturelle Differenz als unser Unvermögen, sie zu akzeptieren.
Die Hand ans Herz: Symbol für Respekt
Beginnen wir mit der Geste: In vielen muslimisch geprägten Kulturen ist das Berühren des Herzens ein Ausdruck von Höflichkeit und Respekt. Es sagt sinngemäß: „Ich ehre dich und zeige dies, ohne physische Nähe aufzudrängen.“ Diese Geste ist keineswegs ein Zeichen von Distanz oder Geringschätzung – im Gegenteil. Sie drückt ein tiefes Bewusstsein für die eigene Kultur und die Werte des Gegenübers aus.
Doch in den westlichen Medien wurde diese respektvolle Handlung verdreht. Der Handschlag, ein typisch westliches Ritual, wurde zum universellen Maßstab erhoben. Wer ihn verweigert, so die unausgesprochene Botschaft, verweigert Respekt. Aber wer sagt, dass Respekt nur durch eine bestimmte Geste ausgedrückt werden kann?
Der Vorfall wurde zum willkommenen Anlass, die angebliche Rückständigkeit anderer Kulturen zu thematisieren. Klar, wir wissen es ja besser. Der Handschlag wird zum ultimativen Maßstab für Zivilisation erklärt, und wer ihn verweigert, fällt zurück ins Mittelalter. Wer braucht schon kulturelle Unterschiede, wenn man moralische Überlegenheit so bequem exportieren kann?
Die westliche Doppelmoral in voller Pracht
Die Reaktion der Medien war vorhersehbar. Die Hand ans Herz wurde als verweigerter Handschlag mit Kommentaren über patriarchale Strukturen, Frauenfeindlichkeit und mangelnde Gleichberechtigung interpretiert. Doch dieselben Kommentatoren, die hier kulturelle Praktiken als „respektlos“ brandmarken, fordern im gleichen Atemzug Toleranz und Vielfalt. Nur halt nicht, wenn diese Vielfalt von einem syrischen Politiker kommt.
Das erinnert an die Doppelmoral, die auch bei anderen Themen gern zur Schau gestellt wird: Wir feiern Diversität, solange sie sich unseren Werten unterordnet. Toleranz ja, aber nur auf unsere Bedingungen. Religion? Klar, solange sie nicht an unseren Lebensstil kratzt. Frauenrechte? Wichtig, aber nur, wenn wir sie definieren dürfen. Al-Scharaa hätte vielleicht einen kurzen Vortrag über die Bedeutung des Respekts in seiner Kultur halten sollen. Aber vermutlich hätte das auch nichts genützt. Die westliche Erzählung stand ohnehin schon fest.
Während al-Scharaa Respektlosigkeit vorgeworfen wird, demonstrieren die Medien genau das – indem sie eine respektvolle Geste missverstehen und abwerten. Anstatt den Moment als Chance für einen kulturellen Dialog zu nutzen, wurde er zur Bühne für moralische Überlegenheit.
Respekt hat viele Gesichter – und manchmal keins
Das eigentliche Problem ist nicht der verweigerte Handschlag. Es ist unsere Arroganz, ihn zu interpretieren. Al-Scharaa folgte schlicht den Normen seiner Kultur. Das hätte man anerkennen können. Stattdessen wird ein Ritual, das in der westlichen Welt fast reflexartig praktiziert wird, zur universellen Norm erhoben. Der Handschlag wird zum Prüfstein für den Wert eines Menschen – oder zumindest seiner Werte. Wie engstirnig.
Der wahre Respekt, den wir so oft fordern, besteht darin, andere Kulturen nicht durch unsere Brille zu bewerten. Wenn wir tatsächlich glauben, Toleranz zu leben, dann müssen wir akzeptieren, dass Respekt sich nicht immer in den Formen ausdrückt, die uns vertraut sind.
Ironie der Empörung
Und dann ist da noch die größte Ironie: Während al-Scharaa Respektlosigkeit vorgeworfen wird, wird mit der westlichen Reaktion genau das getan, was man ihm anlastet – die Werte des Gegenübers werden ignoriert. Vielleicht ist der verweigerte Handschlag nicht das Problem. Vielleicht ist es unser Unvermögen, zu akzeptieren, dass Respekt auch ohne physischen Kontakt ausgedrückt werden kann. Vielleicht ist es Zeit, unsere eigene Haltung zu hinterfragen.
Ein Handschlag der Erkenntnis
Der verweigerte Handschlag war keine Respektlosigkeit, sondern eine kulturelle Grenze, die wir nicht verstehen wollten. Vielleicht wäre es besser, diese Grenze zu akzeptieren, statt sie als Angriff zu deuten. Denn wahren Respekt zeigt nicht derjenige, der auf seinen Bräuchen beharrt, sondern derjenige, der bereit ist, die Bräuche des anderen zu verstehen.
Also, liebe Empörten, lasst den Handschlag ruhen. Denn Respekt ist mehr als eine Geste. Er ist die Fähigkeit, den anderen so zu akzeptieren, wie er ist – auch wenn er die Hand nicht reicht.
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