Seit 2001 kämpft die Bundeswehr in Afghanistan. Deutsche Truppen waren bereits an Kampfhandlungen der „Operation Enduring Freedom“ beteiligt, die innerhalb weniger Wochen zum Sturz des seit 1996 in Afghanistan herrschenden Taliban-Regimes führten. Die US-Regierung hatte die Taliban unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 beschuldigt, der international agierenden Terrororganisation al-Qaida Unterschlupf und Unterstützung zu geben. Bekanntermaßen gelang der „Koalition der Willigen“ jedoch weder die völlige Beseitigung der Taliban noch die Zerschlagung des Terrornetzwerkes al-Qaida. Viele Terroristen flohen in die Berge oder setzten sich nach Pakistan ab. Um Afghanistan dauerhaft zu stabilisieren und eine Rückkehr der Taliban bzw. al-Qaida zu verhindern, wurde Ende 2001 die von NATO-Staaten und mehreren Partnerländern gestellte Internationale Sicherheitsunterstützungstruppe ISAF (International Security Assistance Force) mit dem Schutz des Wiederaufbaus Afghanistans und der Aufrechterhaltung demokratischer Strukturen beauftragt.

Am 22.Dezember 2001 beschloss die deutsche Regierung die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte am Einsatz der ISAF. Seitdem kämpft die Bundeswehr in Afghanistan, angeblich, um dabei zu helfen, das nach über 30 Jahren von Krieg und Bürgerkrieg zerrüttete und fast völlig zerstörte Land wiederaufzubauen und zu stabilisieren. Deutsche Soldaten wurden 2002 in den Norden Afghanistans geschickt. Ab Oktober 2003 sollte die Bundeswehr in Kunduz als Mitglied des sogenannten Provincial Reconstruction Teams (PRT) mit dem Wiederaufbau der Infrastruktur und der Entwaffnung afghanischer Milizen beginnen. Seit 2006 ist sie darüber hinaus damit beauftragt, die afghanische Nationalarmee bei der Ausbildung zu unterstützen. Die Bundeswehr ist in Afghanistan mit 4000 bis 5000 Soldaten präsent. Dennoch sollte man nicht unerwähnt lassen, dass Kritiker die Legitimität der Beteiligung deutscher Truppen an der ISAF-Mission aus verfassungs- und völkerrechtlicher Sicht bis heute für umstritten halten.

Das Wort „Krieg“ tunlichst vermieden

Die Afghanistan-Mission wies von Beginn an gravierende Fehler auf, denn es gab seitens der Politik weder einen konkreten Plan, was zu tun ist, noch existierte je ein ganzheitliches, solides politisches wie militärisches Konzept. Ein Versäumnis lag darin, der deutschen Öffentlichkeit den Militäreinsatz sprachlich adäquat zu kommunizieren. Stattdessen übten sich Politiker in verbaler Verschleierungstaktik und verklärten den Waffengang der Bundeswehr zum quasi harmlosen humanitären Hilfseinsatz. Deutsche Soldaten im Dienst für die Freiheit! Denn schließlich wird „Deutschlands Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt“ (Zitat des ehemaligen Verteidigungsministers Peter Struck 2002).

Die Medien beruhigten das Gewissen der deutschen Öffentlichkeit mit Berichten und Bildern von Soldaten, die Schokolade an Kinder verteilen und beim Brunnenbau helfen. Von den immer häufigeren Kampfeinsätzen erfuhr man so gut wie nichts. War es mangelnde Ehrlichkeit, nicht vorhandenes politisches Rückgrat oder simple Selbsttäuschung? Der Krieg in Afghanistan war zur Friedensmission umdeklariert worden. Nicht weil dies je den Tatsachen entsprochen hätte, sondern weil Politiker und Medien genau wussten, dass sich den Deutschen die militärische Durchsetzung politischer wie geostrategischer (und wirtschaftlicher!) Interessen schlecht verkaufen lässt. Denn im Gegensatz zur US-amerikanischen Bevölkerung lehnt die Mehrheit der Deutschen die Idee eines „gerechten“ Krieges ab, was wenig Wunder nimmt, hat doch die kategorische Absage an Krieg und Gewalt in Deutschland seit Ende des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges Tradition – obwohl dieser ja ohne jeden Zweifel von Anbeginn an ein „ungerechter“ war.

Deutsche Soldaten jedoch, so hieß es aus Berlin, befänden sich gar nicht im Krieg, ihre Aufgabe sei lediglich die Unterstützung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Wiederaufbauprozesses und das Engagement für die Durchsetzung und Wahrung von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten. Die Grenzen zwischen humanitärer Hilfe und Militärintervention hingegen wurden damit auf ebenso fatale wie unverantwortliche Weise völlig verwischt. Und das, obwohl schnell klar war, dass die Entsendung deutscher Soldaten in ein Kriegsgebiet sowohl die Anwendung wie das Erleiden tödlicher Gewalt unweigerlich miteinschließt. Denn schon kurz nach ihrer Ankunft starben die ersten Bundeswehrsoldaten am 6. März 2002 beim Entschärfen einer Boden-Luft-Rakete. Und der Krieg in Afghanistan forderte rasch weitere Opfer, von den zahlreichen Toten auf afghanischer Seite ganz zu schweigen. Vor allem ab 2006 verschärfte sich mit dem Wiedererstarken der Taliban die Situation vor Ort, als es vermehrt zu Selbstmordanschlägen und Feuergefechten kam und es den Taliban gelang, sich in immer mehr Provinzen des Landes wieder festzusetzen.

Die Kunduz-Affäre

Heftige Kämpfe mit Talibankämpfern forderten nun auch immer mehr Opfer aufseiten der Bundeswehr. Deutsche Politiker versäumten es jedoch weiterhin, ehrlich Stellung zu beziehen und sich mit aller nötigen Konsequenz zum ISAF-Einsatz der Bundeswehr zu bekennen, bzw. den Afghanistaneinsatz als das zu bezeichnen, was er nun mal ist: als Krieg. Es wirkt fast schon grotesk. Begriffe wie „Terror“ und „Islamismus“ sind in Deutschland seit 2001 allgegenwärtig, aber das böse K-Wort will bis heute kaum jemand im Munde führen.

Erst die sogenannte Kunduz-Affäre sollte im Herbst 2009 die Wende bringen: Am 4. September 2009 kaperten Talibankämpfer im Einsatzgebiet der Bundeswehr nachts zwei Tanklaster, die im Flussbett des Kunduz manövrierunfähig liegenblieben. Da man die Laster nicht wieder flott bekam, strömten aus den umliegenden Dörfern zahlreiche Zivilisten herbei, um sich Benzin für den Eigengebrauch abzuzapfen. Der deutsche Kommandeur des PRT, Oberst Klein, befehligte zwei US-Bomber mit der Zerstörung der Tanklaster, weil er nach eigenen Angaben die Sicherheit seiner Soldaten bedroht wähnte und gegenüber den Bomberpiloten einen aktuellen Angriff auf Nato-Truppen meldete, obwohl dieser nicht vorlag. Ziel war außerdem die Ausschaltung zahlreicher ranghoher Taliban, die in unmittelbarer Nähe der Tanklaster vermutet wurden.

Eigenen Aussagen zufolge will Oberst Klein keine Kenntnis über die Anwesenheit von Zivilisten gehabt haben. Eine fatale Fehleinschätzung, denn bei der Bombardierung starben hauptsächlich Zivilisten (ca.142 Menschen, darunter auch Kinder). Es handelte sich um die bisher mit Abstand größte Zahl von Opfern bei einem Einsatz der Bundeswehr. Was zunächst verschwiegen wurde, denn noch zwei Tage später bestritt der damalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung, dass es zivile Opfer gegeben habe. Der Angriff und die diesbezüglichen Aussagen der Bundeswehrführung lösten eine Welle nationaler wie internationaler Kritik aus. Die Frage, ob das Vorgehen von Oberst Klein überhaupt rechtmäßig und militärisch angemessen war, blieb umstritten. Klein wurde abgelöst. Gegen ihn wurde Anfang 2010 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Völkerstrafgesetzbuch eingeleitet. Zur Aufklärung der Kunduz-Affäre konstituierte sich der Verteidigungsausschuss des Bundestags als Untersuchungsausschuss. Im April 2010 verkündete die Bundesanwaltschaft dann die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein. Die Anordnung des Luftangriffs habe weder die Vorschriften des Völkerstrafgesetzbuches noch die Bestimmungen des Strafgesetzbuches verletzt, weil Klein davon ausgegangen sei, dass sich zum Zeitpunkt des Luftangriffs keine Zivilisten in der Nähe der Tanklaster aufhielten. Klein habe „nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“. Die Bundeswehr reagierte ähnlich: Auch sie verzichtete nach mehrmonatiger Prüfung darauf, ein Disziplinarverfahren gegen Klein einzuleiten. Und das, obwohl die Nato selbst schwerwiegende Fehler bei der Erteilung des Befehls zum Luftangriff nachgewiesen hatte. Georg Klein wurde am 3. April 2013 zum Brigadegeneral befördert. Nicht nur bei Hinterbliebenen der Opfer des von Klein veranlassten Bombardements in Afghanistan stieß die Beförderung auf Unverständnis.

Im Zuge der Kunduz-Affäre kam es in der deutschen Öffentlichkeit vermehrt zu ernsthaften Debatten um die eigentliche Rolle der Bundeswehr in Afghanistan. Aber es sollte noch bis März 2010 dauern, als der damalige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg endlich das Tabu brach und Klartext redete, indem er einräumte, man könne „umgangssprachlich von Krieg“ in Afghanistan reden. Beschämend, wenn man bedenkt, dass der Krieg zu diesem Zeitpunkt schon neun Jahre andauerte.

Innenpolitische Wirkung wichtiger als tatsächlicher Nutzen

Etwas mehr Ehrlichkeit durfte man vor kurzem auch im deutschen Fernsehen erleben. Wie deutsche Soldaten in Afghanistan Kriegsdienst leisten, zeigte der NDR-Dokumentarfilm „Eine mörderische Entscheidung“, der Ende August/Anfang September 2013 im deutschen TV lief. Der Film zeichnet sowohl die Vorgeschichte als auch die eigentlichen Ereignisse der verhängnisvollen Nacht des 4. Septembers 2009 nach, lässt jedoch deren Bewertung weitgehend offen. Wenigstens im Dokudrama wird also das eigentliche Wesen des Krieges am Hindukusch nachgezeichnet und das Trugbild des humanitären Hilfseinsatzes Lügen gestraft. Wobei sich Unbehagen regt: Der Titel „Eine mörderische Entscheidung“ benennt ein Urteil, das nicht angemessen ist, denn Oberst Kleins Bombardierungsbefehl führte nicht zu kaltblütigem Mord. Der Film spricht allerdings direkt wie indirekt aus, wovor bis heute zu viele deutsche Politiker und Medien die Augen verschließen: Weder der militärische Einsatz noch die zivile Aufbauarbeit haben in Afghanistan zum Erfolg geführt. Vielmehr ist das militärische Abenteuer der Mission am Hindukusch auf ganzer Linie gescheitert. Es existiert bis heute kein tragfähiges Konzept zur permanenten Stabilisierung Afghanistans. Von einer effektiven Bekämpfung der Ursachen von Gewalt und Terror vor Ort ganz zu schweigen.

Genauso wenig findet bis heute eine schonungslos offene Berichterstattung über den Verlauf und die Risiken dieses Krieges statt. Die Afghanistan-Politik wurde nie der tatsächlichen Situation angepasst. Wichtig war nur deren innenpolitische Wirkung. Der Abzug der Bundeswehr ist beschlossene Sache und soll bis Ende 2014 vollzogen sein. Was folgt danach? Wahrscheinlich das, was längst absehbar ist: Der Afghanistaneinsatz wird unweigerlich in einem Fiasko enden. Er hat viel zu viele Opfer gekostet und Unsummen verschlungen. Allein ca. acht Milliarden Euro kostete die Bundesrepublik das Abenteuer Afghanistan. Der Krieg forderte bis jetzt mehr als 3000 Tote Soldaten und mehr als 20 000 Tote auf afghanischer Seite (die genaue Zahl der getöteten Zivilisten ist schwer zu ermitteln).

Korruption und fehlendes Vertrauen

Die Gründe für das Scheitern des Afghanistaneinsatzes sind vielfältig: Darunter finden sich militärische Versäumnisse wie die ungenügende Koordination von humanitärem Wiederaufbau und militärischen Kampfeinsätzen. Aber auch das Vertrauen der Bevölkerung konnte nicht gewonnen werden. Was allein angesichts der immensen Zahl afghanischer Opfer dieses Krieges wenig verwundert. Zu nennen sind darüber hinaus die immer noch äußerst brüchigen demokratischen Strukturen (es herrschen eher Korruption und politische Instabilität) und Mängel in der Ausbildung der afghanischen Armee und Polizei. Ganz zu schweigen vom Wiedererstarken der Taliban. Eine „Irakisierung“ der Verhältnisse vor Ort ist absehbar. So bleibt am Ende nur das traurige Fazit: Was mit hochfliegenden Idealen und hehren Versprechungen begann, wird in geraumer Zeit von neuem in Terror und Bürgerkrieg zurückfallen. Für die Taliban bedeutet dies höchstwahrscheinlich die Rückkehr an die Macht.

„Nichts ist gut in Afghanistan“, hatte die damalige EKD- Ratsvorsitzende Margot Käßmann an Heiligabend 2009 gesagt. Ihre Worte haben bis heute Gültigkeit.

 

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Jahrgang 1969, Historikerin und Autorin, lebt in der Nähe von Mannheim. Interessenschwerpunkte: Konflikt-und Gewaltforschung, Geschichte, Politik, Christentum/Islam, Religion und Religionskritik

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